Original

24. Juli 1923

So nahe ist uns noch heute Dicks an Herz und Nieren, daß wir es kaum verstehen können, wie zu ihm ein Jahrhundert Vergangenheit schon in Beziehung gebracht werden kann. Wie, hundert Jahre sollen es her sein, seit das Samenkorn aufging, aus dem die lebendigsten Werke unserer Muttersprache wuchsen! Werke von einer Lebendigkeit, die wie aus der blutwärmsten Gegenwart nach uns greift!

Freilich, die Brunnen fließen am längsten, die die tiefsten Quellen haben. Und die Quellen der Dichtung Edm. de la Fontaine’s, in Wort und Ton, gehen auf die Tiefen des Volkstums, in dem er wurzelte.

Es ist nicht Zufall und nicht Gunst der Zeit, daß unser ganzes Volk heute von dem Bewußtsein ergriffen ist, es sei eine patriotische Tat, eine Tat der Selbstbejahung, Dicks an seinem hundertsten Geburtstag zu feiern. Die Zeiten sind zum Festefeiern wahrhaftig nicht angetan. Aber nach dem Wirbelsturm der die Völker gegen- und durcheinanderfegte, ging uns klarer als je das Verständnis dafür auf, was wir Kostbares an unserer Art besitzen, und da ist es kein Wunder, daß wir uns um das Andenken eines Mannes scharen, der von jeher am reinsten und deutlichsten für diese Art gestanden hat.

Es wird nicht ausbleiben, daß nun die Erbsenzähler ans Werk gehen werden, um zu ermitteln, wer zuerst die Idee zu dieser Jahrhundertfeier gehabt hat.

Ich begehe eine Sünde wider den hl. Geist der Bescheidenheit, indem ich nun derjenigen eines trefflichen Menschen und Jugendlehrers zu nahe trete. Es ist Herr Lehrer Ternes aus Stadtbredimus, der ganz unbestreitbar als erster den Plan zu einer Dicksjahrhundertfeier gefaßt und ins Werk zu setzen begonnen hatte. Er war der Ansicht, das Fest müsse im hundertsten Jahr nach der Geburt gefeiert werden, also schon am 24. Juli 1922. Und er hatte demgemäß schon lange vorher die nötigen Vorkehrungen getroffen, um zumal in seiner Schule den Tag würdig zu begehen. Er stand später davon ab, als ihm Luxemburger Freunde von der in der Hauptstadt geplanten Dicksfeier auf den 24. Juli 1923 sprachen.

Umso großartiger wird die Gemeinde Stadtbredimus jetzt das Dicks-Zentenarium am nächsten Samstag und Sonntag begehen.

Das Fest lag übrigens in der Luft seit dem 11. Oktober 1903, dem Tag der Enthüllung des DicksLentz-Denkmals. So oft man die Geschichte dieses Denkmals erzählt, man erzählt sie nie zu oft. Nach dem Tod de la Fontaine’s war ein Fonds für ein bescheidenes Denkmal gesammelt, als Michel Lentz starb und von oben herab dafür Propaganda gemacht wurde, daß das geplante Denkmal für beide Dichter gemeinsam errichtet würde. Nachdem dann dieser Gedanke Fuß gefaßt hatte, kam die zweite Etappe: Es hieß, im Grunde genommen sei die schriftstellerische Bedeutung von Dicks und Lentz nicht derart, daß sie an und für sich ein Denkmal verdient hätten. Und zuletzt wurden sie dann unter ein Denkmal für unsern Unabhängigkeitsgedanken subsumiert und Wange an Wange an das Postament geheftet, über dem der luxemburger Löwe thront. Man war bisher gewöhnt, gekrönte Häupter mit ihren Gemahlinnen auf diese Weise Wange an Wange verewigt zu sehen, nicht aber zwei Dichter, die ihrem Wesen nach nicht zusammen gehörten und sich im Leben ihrer Grundverschiedenheit notorisch bewußt waren.

Von der an stand es bei den Freunden Edm. de la Fontaine’s fest, daß später einmal, bei günstigem Anlaß, die Idee eines bescheidenen, aber eigenen Gedenksteins für Dicks wieder aufgegriffen werden müßte.

Heute scheint der Anlaß gegeben. Lebhafter, als je zuvor, interessieren sich die weitesten Volkskreise für die Dicks’schen Schöpfungen, mustergültiger als je können sie mit den heute vorhandenen Kräften herausgebracht werden - die Galavorstellung von heute abend wird dafür den Beweis liefern - und eindringlicher als je werden die Dicks’schen Lieder auf die Zuhörer wirken.

Es ist nicht auf ein pompöses Monument abgesehen. Aber ein bescheidenes Postament mit einer guten Büste des Dichters und seinem Namen, an einem der malerischen stillen Plätzchen, an denen Luxemburg so reich ist, das hat Dicks um uns verdient, um sein Land und um seine Vaterstadt. Die Enkel derjenigen, die seinem Erstlingswerk im Cercle - an derselben Stelle, wo seine Gestalten heute über die Bretter gehen - zugejubelt haben, find stolz, eine Ehrenschuld zu bezahlen, die vor zwanzig Jahren unbezahlt geblieben ist.

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    Katalognummer BW-AK-011-2454