Original

31. Juli 1923

Sie sprachen kürzlich in der Kammer nicht ohne Leidenschaftlichkeit davon, wie sich die Gemeinden in die Steuern der großen Gesellschaften teilen sollen.

Ziffern und Politik waren bei der Debatte maßgebend. Die Ästhetik kam, wie gewöhnlich, nicht zu Wort, weil ihre Werte nicht nach Meter und Ziffern meßbar sind. Und doch ist sie in dieser Frage letzten Endes ausschlaggebend.

Die Frage läßt sich nämlich dahin zuspitzen: Hat ein Land Interesse daran, daß es aus sich heraus als Hauptstadt ein Gebilde entwickelt, dessen es sich nicht zu schämen braucht?

Man sollte sagen, darauf sei entschieden mit ja zu antworten. Aber der Fall liegt anders. Ob ein Land jenes Interesse hat oder nicht - es liegt nicht in seiner Macht, eine andere Hauptstadt zu haben, als die, die sozusagen sein geistiges, ethisches, ästhetisches Extrakt ist. Frankreich könnte aus sich heraus keine andere Hauptstadt destillieren, als Paris, England keine andere, als London, Österreich keine andere, als Wien, Preußen keine andere, als Berlin.

Und die Hauptstadt, die Luxemburg hatte, hat und haben wird, war, ist und wird jeweilig sein ein Brennspiegel des Landes. Ob uns die HH. Wirtgen und Hoffmann die Militärmusik neiden, wir werden sie behalten, solange im Land noch die Meinung vertreten ist, daß das Schöne in der Welt so gut seine Berechtigung hat, wie das Notwendige.

Man sprach von den Lasten, die der Zuzug der höheren Führer- und Beamtengruppen der Schwerindustrie der Hauptstadt verursache.

Es war wohl umgekehrt gemeint. Eine Hauptstadt, die sich sozusagen als die Blüte des Landes empfindet, macht aus sich heraus schon die nötigen Anstrengungen, um ihrer selbst und des Landes würdig zu bleiben. Sie findet dafür nicht immer das nötige Verständnis, sogar bei ihren eigenen Bürgern. Aber die positiven Strömungen sind hierin auf die Dauer doch immer stärker, als die negativen. Eine Stadt ist wie ein Individuum, das aus innerem Bedürfnis nach Aufstieg andauernd an sich verbessert. Sie wartet nicht, bis ihr ein besonderer Anlaß auf die Finger brennt, sie geht einen normalen Entwicklungsgang, weil Stillstand Rückgang wäre. Und dadurch zieht sie die Elemente an, denen gehobene Lebensbedingungen Bedürfnis sind.

Den Leistungen des städtischen Gemeinwesens entsprechen die Leistungen der Bürger. Wer an den Annehmlichkeiten des Wohnens in der Stadt teilhaben will, bezahlt dafür. Wer in die Stadt zieht, tut es in der Regel nur, um an jenen Annehmlichkeiten teilzuhaben, die nicht für ihn, sondern die in Erfüllung einer allgemeinen Mission geschaffen wurden. Es tritt hier eine Wechselwirkung in Kraft, die es ausschließt, daß man sich darum streitet, ob an Ursache oder Wirkung anzuknüpfen sei.

Die Verwaltungen der großen Gesellschaften haben sich nach Luxemburg verlegt, weil die Hauptstadt größere Vorteile bietet. Jeder bezahlt für diese Vorteile nach Maßgabe seiner Mittel. Die führenden Kräfte einer Großindustrie tragen durch ihre Übersiedelung nach Luxemburg dazu bei, daß sich das Niveau der Hauptstadt erhöht, daß also auch ihre Pflichten wachsen und damit ihre Ausgaben. Da wirken soviele Imponderabilien mit, daß es keinen Zweck hat, eine Zifferndebatte darüber zu veranstalten. Grade, daß es sich um die führenden Faktoren handelt, ist ein Grund dafür, daß sich das Niveau erhöht. Also soll der Stadt auch aus der Führerarbeit dieser Faktoren Gewinn zufließen. Und umgekehrt dürfen diese Gruppen beanspruchen, daß im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung die Aufwendungen für die „Verstadtlichung“ des Milieus - in gutem Sinn erhöht werden. Das sind alles Erwägungen, die jenseits des großen Einmaleins liegen. Man versteht sie oder man versteht sie nicht. Leider sind manche, die sie sehr gut verstehen, nicht immer innerlich unabhängig genug, sich dazu zu bekennen.

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    Katalognummer BW-AK-011-2459