Original

28. September 1923

Dich meine ich, freundliche Leserin, dich speziell.

Nämlich unsere Romanbeilage. Du weißt ja darum aus den Maueranschlägen, die in jenem Gelb gehalten sind, das wie keine andere Farbe die Neugier entfacht.

Du weißt, daß vom 1. Oktober ab jeden Samstag die Zeitung von einer Beilage begleitet ist, die für Sonntags und eventuell für einen Teil der Woche Lesestoff enthält.

Du weißt aber vielleicht nicht, freundliche Leserin, daß wir mit dieser Sonntags-Romanbeilage insbesondere dir, ja dir entgegenkommen wollen.

Wir wissen, daß du Romane, gute Romane ebensogerne liesest, wie du sie ungerne kaufst. Es ist ein Nationalmerkmal der Luxemburger und besonders den Luxemburgerinnen. daß sie außer dem Straßburger Hinkenden Boten kein Buch kaufen. Sonst kaufen sie alles, vom seidenen Strumpf bis zur Butterzentrifuge, vom Paar Hosenträger bis zur Dreschmaschine, nur Bücher kaufen sie nicht. Bücher ist für sie etwas, das man in der Schule als Preis und im späteren Leben von Freunden geliehen bekommt, aber niemals kauft sowenig man die Luft oder einen Trunk Wasser aus dem Wiesenquell kauft. Bücher sind da. Man lieft sie und legt sie wieder hin. Wo sie herkommen, ist gleich und kümmert niemanden. Aber man liest sie.

Du auch, liebe Leserin. Du empfindest in mehr oder weniger langen Abständen das Bedürfnis, ein Buch zu lesen. Einen Roman, der das Leben so zurecht macht, wie es eigentlich sein sollte, damit jedem nach seinem Maß gemessen werde, den Guten und Bösen, den Starken und Schwachen, den Schönen und Garstigen. Das wissen die Romandichter zu besorgen, sie machen eine Welt zurecht, in der es sich mit Genugtuung leben läßt, in die man sich gern auf etliche Stunden vor der brutalen Nüchternheit der Wirklichkeit flüchtet.

Darum, freundliche Leserin, haben wir beschlossen, für dich die alte, beliebte Romanbeilage wieder ein- führen. Sie wird dir gerade jetzt, beim Herannahen des Winters, willkommen sein. In Luxemburg haben die Sonntagnachmittage für die Frau noch fast alle die Schrecken behalten. Die Männer haben die Jagd @ die Fischerei und den Skat, sie haben die eingeschlechtlichen Sonntags-Nachmittags-Ausflüge mit Freunden nach Hesperingen und Walferdingen, sie lassen, was sie tun, wenn sie Sonntags nach dem Dessert den Mund abwischen und die Serviette zusammenfalten.

Die Frau indes steht vor dem leeren Nachmittag die vor einem gähnenden Riesenmaul und sieht die nahe Langeweile auf sich zukommen, zumal im Winter, breit, stumpf, erdrückend, unentrinnbar.

Hier muß die Romanbeilage helfen. Sie öffnet Tür und Tor zu jener bunten Welt, in der nur interessante Leute verkehren, Leute, die wohlerzogen sind, mit denen es sich höchst angenehm verkehren läßt, für deren Schicksale man sich erwärmt, die man liebt oder haßt, bewundert oder belacht, mit denen man sich auf Stunden umgibt und von denen man nur mit Bedauern scheidet, wenn sie plötzlich mit „Fortsetzung folgt“ zur Türe hinaus verschwinden.

Da sind gut gewachsene Männer mit den Gesichtern, der Frisur, der Tracht, wie sie nur die Edelsten und nerlich Vornehmsten heutzutage tragen, mit jenem Stich ins Amerikanische, der seit dem 22. November 1918 hier so beliebt ist. Da sind Frauen, die wie mit dem Extrakt des Ewig Weiblichen parfümiert sind, ist die jeder der obengenannten Männer glatt und chelnden Mundes in den Tod ginge. Da sind Menschenexemplare von einer Reinheit des Typs, wie sie der in einem idalen „Cäsar und Minka“ für die Gattung homo sapiens zu züchten wäre. Und alle chlacken und Eierschalen, alle Warzen- und Schönheitsfehler, alles Aufdringliche der Wirklichkeit ist beseitigt: die Maschine läuft ohne Stoß und Schlag, es ist eine Lust zu leben.

Das alles, freundliche Leserin, haben wir dir zulieb getan. So aber dein Vater, Gatte, Bruder oder Sohn jedenfalls Spaß daran hätte, so setz dich nicht auf die Romanbeilage und laß auch die andern sich daran freuen. Dann habt ihr reichen Gesprächsstoff und könnt euch darüber streiten, ob der Graf oder der Ingenieur, die Komtesse oder die Tänzerin, die Gänseliesel oder der Blaustrumpf „am gelungensten“ sind.

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    Katalognummer BW-AK-011-2469