Original

29. September 1923

Es ist am Frühnachmittag des ersten Tages, an dem das mild sonnige Herbstwetter eingesetzt hat. Die Welt sieht aus, als ob sie nicht wüßte, was Regen ist. Ueber den Paradeplatz gehen zwei junge Mädchen. Die eine hat einen braunen, die andere einen schwarzen Mantel aus Wachstuch an. Dazu die entsprechenden Hüte aus demselben Stoff. Man sieht den beiden an, wie lieb es ihnen wäre, daß es wieder in Strömen regnete, ihren funkelnagelneuen Regenmänteln und Regenhüten zu Ehren. Sie sind bis an die Zähne gegen den Regen gewappnet, sie fordern übermütig das Barometer in die Schranken.

Und sie brauchen keinen Regenschirm. Sie würden sich für entehrt, für lächerliche Figuren halten, wenn sie Regenschirme trügen. Ganz wie ihre Großmütter, ma chère, ich bitt’ Sie! Wer trägt denn heute noch einen Regenschirm! Man ist doch eine Sportdame, nicht wahr, wenn man auch nur bei Knopf Handschuhe verkauft. Man ist abgehärtet gegen Wind und Wetter, man ist imstande, quer durch die ganze Stadt bei strömendem Regen zu gehen, man hat schon mit einem Freund eine Tour auf dem Motorrad gemacht, hinter ihm auf dem federnden Notsattel gehockt, die Waden in Seidenstrümpfen von Wind und Regen gepeitscht. Und nun soll man einen Regenschirm tragen, das Symbol der Verweichlichung, der Bangbüxigkeit und des Spießbürgertums! Ein Soldat trägt nie einen Regenschirm. Oder können Sie sich z. B. Herrn Oberleutnant Müller in Uniform vorstellen, mit Stiefeln und Sporen, in der einen Hand die Reitpeitsche, in der andern den Regenschirm! Also! Ein modernes junges Mädchen trägt keinen Schirm, es hüllt sich rauh und schlau in Leder, oder, wenn Leder zu teuer ist, in Wachstuch, das wie Leder aussieht.

Der Sport und die Mode, die sich nach ihm richten mußte, hatten schon dem Sonnenschirm den Garaus gemacht. Die Sonnverbranntheit eines Mädchengesichtes war aus einem Gegenstand sanfter Verpönung zu einem äußerst begehrten Artikel geworden. Man wollte nach Freiluft statt nach Treibhaus und Salon aussehen, und wo die Sonne nicht langte, half man sogar mit künstlicher Bestrahlung nach. Der Sonnenschirm war erledigt.

Jetzt droht es dem Regenschirm nicht besser zu gehen. Eine Dame, die mit Leder- oder SimililederAusrüstung durch die Straßen geht, wird in der Regel für eine Automobilbesitzerin gehalten. Und manche Dame hat lieber ein Auto in der Vorstellung der andern, als einen Regenschirm in der Hand.

Der Regenschirm weiß, daß er in Ungnade gefallen ist, und er macht verzweifelte Anstrengungen, sich über Wasser zu halten - wenn man dies Bild von einem Regenschirm gebrauchen darf. Er hat auf jede persönliche Eitelkeit verzichtet und sucht nur noch, den Frauen um jeden Preis zu gefallen. Wie fängt er das an? Es ist ihm aufgefallen, daß die Frauen sich in den Lebewesen, mit denen sie sich umgeben, gerne eine Folie schaffen, daß sie z. B. für Hunde zu schwärmen vorgeben, die ein Ausbund von Häßlichkeit sind. Das verwachsenste, monstruöseste Vieh hat die erste Anwartschaft auf die Stellung als Schoßhündchen.

Halt, denkt der Schirm, werden wir plump, häßlich, difform, kurzum das Gegenteil unserer angebeteten Herrin, und wir werden wieder in Gnaden aufgenommen! Und da entstand der moderne Damenschirm, halb Mops, halb Dackel, oben eine Keule, unten ein oul-de-jatte, ganz der Gegensatz zur Dame, die ihn im Arm hält, an der alles bis auf die Absätze hinunter in die Länge gezogen, schlank, zugespitzt, geschmeidig ist.

Wer hätte dem einfältigen Regenschirm, dem Wappentier des nüchternen, prosaischen Bürgerkönigs, diese raffinierte Kenntnis der Frauenpsyche zugetraut!

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    Katalognummer BW-AK-011-2470