In den „Basler Nachrichten“ weinte dieser Tage jemand einem jungen Mädchen, das im Begriff war, zu heiraten, eine feuilletonistische Träne nach. Sie war freilich nicht die erste Beste, sie war die „petite Gilberte de Courgenay, die lustige, herzensgute und - ach so charmante kleine Wirtstochter“, die durch ein populäres Marschlied während des Krieges in der Schweiz ebenso berühmt geworden zu sein scheint, wie Madelon in den französischen Schützengräben. Die kleine Gilberte aus Courgenay wird bald Frau Louis Schneider-Montavon aus St. Gallen sein, sie ist versorgt. Aber was ist aus der kleinen Madelon geworden? Hat sie geheiratet, ist sie glückliche Mutter einer möglichst großen Anzahl kleiner Poilüs, ist sie noch zu haben?
Wie hallten auch hier die Straßen wider von dem Lied, das ihre Reize, ihr Entgegenkommen pries! Und wie still ist es schon lange von ihr geworden! Von wieviel Schlagern ist sie verdrängt, seit das letzte Bombenflugzeug sich in den Lüften über uns über die letzten Granaten der Flakstationen mokierte!
Als ich die Mär von der bevorstehenden Verehelichung der kleinen Gilberte Montavon aus dem Juradörfchen Courgenay las, besann ich mich darauf, wo und wie und wann die Madelon in meine Existenz getreten war. Es war nicht erst nach dem Waffenstillstand, beim Einzug der französischen Horizontblauen, es war mitten im Krieg gewesen, auf einem halb frohen, halb traurigen Ausflug. Froh war er, weil manch lustiger Geselle und manch hübsches Mädel dabei war. Traurig, weil einer aus dem Kreis auf einer Fahrt über die belgische Grenze von den Deutschen aufgegriffen worden und seit drei Tagen völlig verschollen war.
In Wecker war die erste Station. Zum Morgenkaffee spendete die Frau Wirtin an der Bahn - gesegnet sei sie allezeit von der Wurzel bis zum Gipfel - u. a. eine große Schüssel mit weißem Käse, einem Labsal, das wir nach Jahren der Entwöhnung durch den Krieg zu schätzen wußten. Dann beredete uns ein guter Freund, mit ihm zuhaus eine Burgunderprobe zu veranstalten. Und dort war es, wo wir zuerst die Madelon hörten. Putty Stein setzte sich an den Flügel und sagte, er habe das neueste französische Marschlied gelernt, das wolle er uns jetzt vorspielen. Die Weise fuhr allen in die Füße und es dauerte nicht lange, so war das Lämmerhüpfen im schönsten Zug. Und dann auf einmal sprach wieder einer von dem Verschollenen und es fiel ein Tropfen Wermut in den Freudenkelch, den die Madelon unbekannterweise über die Berge und Fernen herüber kredenzte. Und an der Eisenbahn hinauf und hinunter zogen Feldgraue die Wachen auf.
Wie lange ist es schon her? Der gute Freund ist tot, aus den reizenden Mädeln sind noch reizendere junge Frauen und Mütter geworden, der weiße Käse hat aufgehört, eine Seltenheit zu sein, Putty Stein svielt längst ganz andere Lieder, als die quicke Weise, die ihre Weihe auf einer vom Eisen zerrissenen und von Blut getränkten Erde erhalten hat - wir reden vom Krieg, als seien seine Greuel und Ängste erst gestern zu Ende gegangen - und doch spielen in unsern Straßen schon Geschlechter, die nichts von ihm erlebt haben, denen er nichts bedeutet, die einem neuen Leben zugewandt sind und einer Zeit entgegenwachsen, in denen sich das Geschehen des letzten Jahrzehnts im Guten oder im Bösen auswirken muß.
Wünschen wir ihnen, daß nach langen Jahren, wenn einmal die petite Gilberte de Courgenay und die schöne Madelon ihren Enkeln vom großen Krieg erzählen, bis dahin kein größerer Krieg gekommen sein wird, gegen den der andere nur ein Kinderspiel war.