Original

17. Oktober 1923

Mosel? Herbst? Traubenlese? Wie liegt das alles weit dahinten! Niemand redet in diesen Tagen davon. Denn es ist nichts da zu herbsten. Auf ganzen Bergen ist keine Hotte voll Trauben zu ernten. Man denkt an die Mosel weil morgens Nebel die Täler füllt, der Nebel, der am Rhein „Traubendrücker“ heißt. Heuer findet er nichts zu drücken. Sonst, in gesegneten Jahren, schlägt er sich als winzige Brillanttröpfchen auf den Traubenbeeren nieder, und jedes Tröpfchen fängt wie ein Brennglas die Sonne und leitet sie in den Saft, dem sie später als berauschender Geist wieder entschwebt. Dem Moselaner ist zumut, wie einem, der im Breiregen keinen Löffel hat. Was hilft ihm der Traubendrücker und was hilft ihm die Sonne, wenn seine Rebstöcke unfruchtbar dastehen! Der Sonnenschein ist ihm schätzbar nur sub specie seiner Trauben, fehlen die Trauben, so stimmt ihn der Sonnenschein nur noch elegischer. Ja, sagt er, wenn die Stöcke voll Trauben hängen, ist Sauwetter, und wenn die Sonne scheint, daß die Luft zittert, dann ist nichts im Weinberg.

Es war aber schon anders. Es gab Jahre - sie sind noch nicht gar so fern, ob sie auch schon weit hinten in der Erinnerung liegen - wo wir im Spätoktober hoch oben auf den Bergen im klanken Tag saßen, wie im Hochsommer, die Leserinnen mit weißen und farbigen Flecken durchs Laub schimmerten, aufkicherten, wenn ein Bursch den Tribut für eine hängen gelassene Traube forderte, schöne alte, halbvergessene Lieder hinausschmetterten, in gottgeschenkten Stunden, von denen man nachher immer denkt, sie seien auf immer dahin und können so schön niemals wiederkehren.

Niemand empfindet heuer den Drang, durchs Moseltal zu schweifen, zu Fuß, per Rad oder Auto, ein Körbchen im Arm, an der Lenkstange oder im Wagen, um mit süßer Last heimzukommen.

In früheren Jahren hieß um diese Zeit die Losung: Hie Mosel allewege! Und wie Heuschreckenschwärme ergoß es sich über die Straßen zwischen Schengen und Wasserbillig Die Weinberge schienen allen auf einmal Gemeinbesitz, es wollte nicht in die Köpfe hinein, daß dieser süße Segen, der weithin über die Bergrücken und die Terrassen hinauf ausgegossen war, nicht allen gehören sollte, die darnach die Hände ausstrecken wollten. Wie! Ich soll nicht zwischen die Rebstöcke hineindürfen und mir eine Kiste voll schneiden! Wo doch die Welt so voll davon ist, daß man kein Ende sieht! Auf ein Pfündchen mehr oder weniger kommt es doch nicht an!

Freilich, darauf kam es nicht an, für ein „Kärftchen Drauwen“ war der Moselaner immer zu haben. Aber damals trieben es zumal die Herren Radfahrer zu bunt, sie schnitten ganze Büglinge ab und banden sie an die Lenkstange, wie Raubritter die gestohlenen Hühner, und es war ihnen gleich, ob sie den ganzen Stock zuschanden schnitten, sie wollten zuhaus zeigen, daß sie da gewesen waren.

Wie gern würden die Winzer es in diesen Tagen leiden, daß ihnen die Touristen die Reihen an der Straße ausfrevelten, wenn sie nur wieder ein Jahr wie 15 oder 16 schreiben könnten! Aber sie stehen am Ende eines mühsamen Arbeitsjahres mit leeren Händen. Ihre Arbeit ist doppelt bitter, weil sie sie tun müssen, trotzdem sie wissen, daß sie ihnen nichts einbringen wird. Aber der Weinberg muß gerettet werden, auch wenn er nichts trägt. Vielleicht geht es im nächsten Jahre besser. Vielleicht!

Und sie bringen es fertig, dabei zu lachen und fröhlich zu sein, trotz allem.

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