Unsere Nähterin, eine kreuzbrave alte Haut, sagte dieser Tage: „Herr Redakteur, ich wüßte für Sie einen feinen Stoff zu einem Artikel.“
„So so,“ sagte ich, „ich bin für Stoffe immer sehr dankbar. Also?“
„Mein Hausherr hat mich ganz fürchterlich gesteigert ....“
„Verzeihen Sie, eben höre ich draußen die Trambahn kommen, ich muß punkt drei in der Stadt sein.“
„Ich bin gleich fertig. Daß er mich gesteigert hat, wäre das mindeste,“ - eben brauste mein Wagen draußen vorbei - „aber es regnet mir auf den Kopf und der Hausherr will keine Reparatur am Dach machen lassen. Ich muß drei, vier Töpfe im Zimmer herum aufstellen, wenn’s regnet, und im Nu sind alle voll. Ich habe schon alles Mögliche versucht, der Gerichtsvollzieher war schon da und hat gesagt, es ist ein Skandal, die Töpfe waren grade voll bis an den Rand und es tröpfelte von oben immer weiter. Das Schönste dabei ist noch, daß mir die Leute, die unter mir wohnen, jeden Tag drohen, wenn ich es auf sie durchregnen lasse, so machen sie mich haftbar. Was soll ich da machen? Bitte rücken Sie es ein, wenn es auch nichts hilft, der Hausherr kann wenigstens lesen, was er für einer ist.“
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie der guten Frau zu helfen wäre. In einer schlaflosen Nacht fiel mir ein, daß ich in bezug auf die Wassergerechtsame von einer Bestimmung gehört hatte, die auf den Fall zutraf. Am nächsten Tag ging ich zu einem unserer hervorragendsten Rechtsgelehrten und fragte: „Gibt es nicht ein Gesetz über die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Leute, die hintereinander an einem Wasserlauf wohnen?“
Er griff stillschweigend nach seinem Band Zivilgesetzbuch, schlug ihn auf und zeigte auf Artikel 640, der also lautet: «Les fonds inférieurs sont assujettis envers ceux qui sont plus élevés, à recevoir les eaux qui en découlent naturellement sans que la main de l’homme y ait contribué. .... Le propriétaire supérieur ne peut rien faire qui aggrave la servitude du fonds inférieur.»
Also: Der tiefer Liegende muß das Wasser von oben leiden, wenn der höher Liegende von sich aus nichts dazu tut.
Ich ging zu der Nähterin und sagte: „Lassen Sie es künftig ganz ruhig auf Ihren und durch Ihren Fußboden regnen, die Nachbarn von unten richten gegen Sie nichts aus. Sie lassen einfach Gottes Wasser über Gottes Land laufen, und nach dem Gesetz kann Ihnen dafür niemand was anhaben.“
Sie folgte meinem Rat. Bald darauf begann die Regenperiode, die alle Bäche im Land zum Überlaufen brachte. Eines Tages stürmten die Mieter, die unter dem Stübchen der Nähterin wohnten, wutschnaubend die Treppe hinauf und drangen mit Flüchen und Verwünschungen bei ihr ein. Sie saß mit ihrer Näharbeit auf dem Tisch und um sie herum auf dem Fußboden plätscherte es polyphon.
Um es kurz zu machen: Es kam zu einer gerichtlichen Klage. Die Nähterin pochte auf ihr gutes Recht und sagte, ich hätte ihr aus dem Gesetz vorgelesen, daß niemand sie zwingen könnte, dem Wasser von oben, für das sie nicht verantwortlich ist, in ihrer Stube den Durchgang zu verwehren.
Der Prozeß ist also im Gang.
Der Hausherr stellt sich auf den Standpunkt, daß die Gelegenheit zur Benutzung einer Regenwasserquelle in einer Wohnung eine Bequemlichkeit darstellt, die gar nicht hoch genug bewertet werden kann, zum Beispiel in Hinsicht auf das Gießen der Zimmerpflanzen, die kleine Wäsche, die Veranstaltung einer Kneipp-Kur im Hause usw. Und er hat die Mieter im Verhältnis zu dem Wert dieses Vorzugs seines Grundstücks um weitere 25 Prozent gesteigert.
Unsere Nähterin sagt, sie werde mir nie mehr einen Stoff zu einem Artikel angeben.