„Die Kammer berücksichtigt kein Gesuch, das Privatinteressen zum Gegenstand hat, ausgenommen wenn das Gesuch ein Unrecht gutzumachen sucht, das aus ungesetzlichen Handlungen der Regierung oder der Behörden hervorgeht.“ (Art. 67 der luxemburgischen Verfassung.)
Ein luxemburgischer Zollbeamter wird in eine Ortschaft versetzt, in der eine Dienstwohnung vorhanden ist. Der Mann ist verheiratet. Die Dienstwohnung ist feucht. Die Frau bekommt schweren Gelenkrheumatismus. Der Mann behauptet, daran sei die feuchte Wohnung schuld. Da ihn der Staat gezwungen habe, die feuchte Wohnung zu beziehen, sei der Staat auch schuld am Gelenkrheumatismus seiner Frau und müsse ihn dafür entschädigen. Er richtet ein Gesuch in diesem Sinn an die Abgeordnetenkammer. Die Regierung beruft sich auf obigen Artikel 67 der Verfassung und sagt: Ich habe keine ungesetzliche Handlung begangen. Wenn, wie der Beamte behauptet, ein Gesetz bestand, das ihn auf jene Dienstwohnung verwies und wenn die Regierung sich an dies Gesetz hielt, indem sie ihn zwang, die feuchte Wohnung zu beziehen, so hat die Regierung nichts Ungesetzliches getan, denn ein Gesetz ausführen kann nicht ungesetzlich sein.
Herr Marcel Cahen widerspricht der Regierung und Herr Neyens sagt ihm durch die Blume, da er nicht Jurist sei, verstehe er auch nichts vom Gesetz.
Herr Marcel Cahen antwortet: Ich bin nicht Jurist, aber ich halte mich an den gesunden Menschenverstand.
Demnach könnte man also meinen, Gesetzeskunde und gesunder Menschenverstand seien zwei Dinge, die nicht nur voneinander verschieden sind, sondern auch zueinander in einem Gegensatz stehen, von dem man nicht weiß, ob dabei die Gesetzeskunde oder der gesunde Menschenverstand am schlechtesten wegkommt.
Die Annahme ist zum Glück falsch. Denn da die Gesetze schließlich aus dem engen Bund des Gerechtigkeitsgefühls mit gesundem Menschenverstand geboren werden oder doch geboren werden sollten, so kann das Eindringen in den Geist der Gesetze einen nicht mit dem gesunden Menschenverstand in Konflikt bringen.
Im Anfang war der gesunde Menschenverstand, dann erst kamen die Gesetze und nach ihnen kamen die Juristen, wenigstens die, die mit Herrn Neyens der Ansicht sind, daß der Staat keine ungesetzliche Handlung begeht, wenn er durch Gesetz einen Beamten zum Bewohnen eines feuchten Hauses zwingt, in dem seine Frau Gelenkrheumatismus bekommen muß. Vorausgesetzt, daß die Tatsachen stimmen, wie sie im Gesuch des genannten Beamten angegeben sind, hätten wir hier mit zwei Gesetzen zu tun. Eines dieser Gesetze bestimmt, daß ein Beamter an seinem Dienstort in dem Hause wohnen muß, das ihm seine Verwaltung anweist. Denn wenn der Staat ein Haus gekauft hat, liegt es nahe, daß er es lieber von einem seiner Beamten bewohnen läßt, als daß er die Miete verliert.
Das andere Gesetz ist vielleicht nicht geschrieben, es steht jedenfalls seinem Wortlaut nach in keinem Gesetzbuch, aber es steht deutlich im Bewußtsein der zivilisierten Menschheit: Du darfst keinen Menschen zwingen, ein Haus zu bewohnen, in dem er nach ärztlicher Berechnung krank werden muß. Und wenn Herr Neyens in sämtlichen wirklich bestehenden Gesetzestexten kramen will, so wird er zweifellos einen finden, der in allgemeinerer Fassung jenen andern in sich begreifen wird.
Dann ist aber erwiesen, daß es eine ungesetzliche Handlung ist, wenn jemand einen Menschen zwingt, sich in einem Hause aufzuhalten, in dem er krank werden muß. Wenn auf solche Handlung der Begriff der Ungesetzlichkeit nicht mehr angewandt werden könnte, so würde das Volksbewußtsein an dem gerechten Kern der ganzen Gesetzgebung irre. Denn es ist wichtiger, daß einem Menschen die Gesundheit erhalten wird, als daß der Staat aus einem feuchten Haus seine Jahresmiete herausschlägt.
Vielleicht hätte Herr Neyens mehr Aussicht auf Erfolg, wenn er den Tatbestand in Abrede stellte. Aber dann würde ihm Herr Cahen mit Recht entgegenhalten, daß Herr Neyens nicht Mediziner ist.