Die alten Griechen hielten es für nötig, jedem Menschen den Rat mit auf den Lebensweg zu geben: Kenne dich selbst! Daraus kann man schließen, daß schon bei den alten Griechen die Menschen sehr häufig waren, die sich nicht selbst kannten.
Du glaubst Dich zu kennen. Einen Menschen kennen, heißt wissen, wie er auf gegebene Reize reagieren muß, was er mit größter Wahrscheinlichkeit in bestimmten Lebenslagen tun wird, ob er stehlen oder verzichten wird, schwelgen oder hungern, lieben oder hassen, hauen oder kuschen, treu oder falsch sein, feige oder mutig, ruhig oder aufgeregt, große oder klein. Weißt Du das von Dir? Kennst Du Deine Triebe und kennst Du Deine Hemmungen? Weißt Du, daß die Hemmungen, die von außerhalb zu wirken scheinen, nur die Reaktion auf Regungen sind die in Dir liegen? Du versagst Dir einen Genuß und bildest Dir ein, damit ein verdienstvolles Werk vollbracht zu haben, während Du im Grund nur einem selbstsüchtigen Motiv gehorcht hast. Wenn Du Dich kennen willst, mußt Du nicht davon ausgehen, was Du in einem gegebenen Fall und unter den gegebenen Verhältnissen tun würdest, sondern was Du tun würdest, wenn Du ungestraft tun dürftest, was Du möchtest.
Und wenn Du schließlich so weit bist, daß Du Dich selber kennst, dann kennst Du doch wieder einen ganz andern Menschen, als den, den die andern in Dir sehen. Du kannst Dir gar nicht denken, in wie vielfacher Gestalt - seelischer und oft sogar körperlicher - Du in der Vorstellung Deiner Nebenmenschen lebst. Du hörst, daß ein anderer für Dich gehalten wurde, und kannst nicht begreifen, daß jemand, der Tich zu kennen behauptet, Dich in jenem andern zu erblicken glaubte, der Dir doch - das steht jeder! - keine Spur ähnlich sieht und meist entschieden häßlicher ist, als Du.
Und wenn Du nun erst wüßtest, welches seelische Bild von Dir sich die Leute machen, ob sie Dich versönlich kennen oder nicht! Jeder sieht Dich anders, von einer andern Seite, wie die zehn, zwanzig Atelierschüler jeder das Modell aus einem andern Angenwinkel sehen und malen. Dem einen bist Du liebens-, dem andern hassenswert, je nachdem Du dem einen oder dem andern im Lichte einer Tugend oder eines Fehlers erscheinst und er das Bild dieses Haupteindrucks ergänzt.
Bestimmend für die Vorstellung, die einer von Dir hat, kann oft eine Äußerlichkeit sein, von der Du keine Ahnung hast. Vielleicht hat jemand in guter oder böser Absicht in einem gewissen Kreise über Dich schöne oder häßliche Geschichten ausgestreut, die erfunden sind oder um einen harmlosen Kern allerhand herumphantasieren. Du lebst und stirbst in der Vorstellung von Hunderten als einer, den es nie gegeben hat und der doch Deinen Namen trägt. Es passierte mit dieser Tage, daß ein alter Schulkamerad mir erzählte, ich hätte ihn auf der Penne eines Tages beim Schneeballwerfen geohrfeigt und er trage sich seither mit unausrottbaren Rachegefühlen. Mein Bild war in seinen Gedanken durch diesen Daueraffekt gefärbt. Ich hoffe, nachdem wir zusammen verschiedene Becher gelupft haben, ist die Färbung fortgewaschen. Vielleicht denkt ein anderer noch viel schlimmere Dinge von mir, und ganz sicher fälsche ich mir das Bild zahlreicher Nebenmenschen durch den Widerschein von allerhand Klatsch, der über sie umgeht.
Über Goethe, Napoleon Nietzsche und andere Großen besitzen wir Haufen von Literatur, aber was können wir Zuverlässiges von ihrem Menschlichen wissen, da uns die, die uns tagtäglich am nächsten stehen, und da wir uns selbst manchmal ein Rätsel bleiben?