Original

7. November 1923

Im Schaufenster eines Photographen sah ich einen Mädchenkopf. Fremdartig hübsch. Unter dem breiten Hut sahen, ein wenig aufwärts gewandt, zwei Augen hervor, aus denen das bang sehnsüchtige Warten auf das Leben sprach. Das Leben, durch dessen halboffene Pforten man hineinsieht, aber das einen noch nicht in seinen Strudel von „himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt“ tief hineingezogen hat. Das hübsche Gesicht mit seinen großen Zügen - es waren Züge wie in den Gesichtern der Inselfrauen, den Gesichtern, die das lange verlangende Schauen übers Meer auseinanderzieht - war von schwerem dunkelm Haar eingerahmt, das Fremdartige, ein wenig Sphynxhafte wurde verstärkt durch Ohrringe, die als langgezogene, dünne Tropfen fast bis auf die Schultern hingen.

Aber das eigentlich Fesselnde in dem Gesicht war der Mund. Ich kannte ihn seit langem, trotzdem ich das Gesicht nicht kannte. Er war nicht klein, aber schön geschnitten, mit Lippen nicht zu dick und nicht zu schmal, mit einem Ausdruck heiterer Sehnsucht, süßer Schmerzlichkeit. Ich hatte diesen Mund schon vor Jahrzehnten gesehen. Es war ein Familienmund. Er war in einer Familie erblich, die ich seit drei Generationen kannte.

Ich ging in den Laden und erkundigte mich. Richtig, das junge Mädchen trug den Namen, der mir von ihrem Mund unzertrennlich war. Wenn ich ihr in Yokohama, auf den Südseeinseln, auf dem Mars begegnet wäre, ich wäre auf sie zugegangen und hätte gesagt: Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, aber heißen Sie nicht Soundso? Dasselbe hätte mir mit einem Bruder von ihr geschehen können, denn in dieser Familie ist der Mund auch manchmal Erbteil der Männer. Obgleich ich ja vermute, daß er von einer Ahnfrau stammt.

Ich stand lange vor dem Bild und dachte an den Urahn, der sich dazumal in diesen Mund verliebt hatte. Denn das stand für mich fest: Wenn einer sich in dies Gesicht verliebt, ist es vor allem der Mund, der es ihm antut. Ist es nicht ein selisames Gefühl, das einen bei der Betrachtung eines solchen Bildes erfüllt: daß schon vor hundert Jahren ein Mann dem eigenartigen Reiz dieser Lippen verfallen sein mochte, daß das Wunder des Werdens und Wiederwerdens die geheimnisvolle Kraft dieses Ausdrucks immer wieder in neue Lippenpaare überströmen läßt, daß einst ein Mädchen vielleicht in der Tracht der Lotte Kestner ihrem Cavalier zutanzte mit demselben Lächeln des Mundes, mit dem heute das Originol dieses Bildes dem jungen Manne zunickt, der es zu einem Foxtrott oder Shimmy auffordert!

Alle Münder bewahren durch Jahrzehnte und Jahrhunderte einen Ausdruck, seltener eine Form, die einer Geschlechterlinie angehört. Denken Sie an die Habsburger Lippe, die auf den Königsbildern des Velasquez nicht charakteristischer ist, als auf den Photos des gegenwärtigen Königs von Spanien. Schön ist diese historische Lippe nicht, aber langlebig. Andere Münder haben weniger auffällige Züge, als die hispanische Königslippe, darum fallen sie weniger auf, obgleich sie ebenso hartnäckig die Jahrhunderte überdauern. Nur wenn ein Mund besonders schön oder besonders häßlich ist, spricht man von ihm als einem Familienerbteil. Und auch dann wohl nur im engen Familienkreis, wenn es sich, wie bei dem Mädchen auf jenem Bild, um einfache Bürgersleute handelt. Aber wenn diese einmal glückliche Mutter wird und ihren Töchtern weiter nichts vererben sollte, als ihren seltenen Mund, so würden sie ihr Leben lang sicherlich viel Liebe erfahren, allein ihres Mundes wegen.

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KatalognummerBW-AK-011-2501