Original

9. November 1923

Jede luxemburger Hausfrau ist stolz auf ihr Linnen. Es ist ein Zeichen angestammter Deftigkeit, daß sie am stolzesten auf die Stücke ist, die nur im Geheimen zu prangen bestimmt sind. Auf diese Hausfrau paßt nicht das alte Spottwort: „Uewen erem e Spetzekranz - Önnen erem de Lepp net ganz.“ Ihr reeller Sinn verlangt, daß sie mit ihrer intimsten Leibwäsche vor sich selbst zu allererst in Ehren besteht.

Manchmal hängt sie aber auch Spitzenhöschen ins Fenster. Aber es sind nicht ihre eigenen, es sind die Spitzenhöschen des Hauses, die Vorhänge.

Die sind im Linnenschrank ein Kapitel für sich. Mit ihnen muß nach der Straße hinaus im hellen Tag Staat gemacht werden. Hat eine Frau nichts anzuziehen - was sie so nichts anzuziehen nennen - so kann sie sich damit helfen, daß sie so lange nicht ausgeht. Mit den Vorhängen ist es anders und schlimmer. Die haben einfach da zu sein. Sie haben für die Hausfrau Zeugnis abzulegen. Darum sind sie deren erste und vornehmste Sorge. Was denken die Leute, nicht wahr?

Die Vorhänge zerfallen schematisch und grosso modo in dieselben Bestandteile, wie jede weibliche Toilette, nur daß diese Bestandteile zum Teil anders herum sich darstellen. Wir haben die schweren Gardinen, die dem Kleid, wir haben die brise-bise, die dem Hemd, und wir haben die Stores, die den Spitzenhöschen entsprechen. Nur daß, wie angedeutet, hier die Dessous sich in den Vordergrund drängen - immer vom Standpunkt des Beschauers von außen. Auch die Combinaison hat ihr Gegenstück in den Vorhängen, die ein Fenster schlicht und einheitlich von oben bis unten bespannen.

Gehen Sie einmal durch eines der neuen Stadtviertel, beispielsweise auf dem Bourbonplateau. Ordentlich feierlich wird Ihnen zumut vor all der Pracht der Vorhänge. Zumal in Stores wird da geschwelgt. Die kostbarsten Gewebe - die WeißeWoche-Annoncen zeigen sie in allen Preislagen an - sind mit den zierlichsten Spitzenmustern durchbrochen und besäumt. Und alle, ohne Ausnahme, sind ganz genau auf dieselbe Höhe hinaufgezogen. Da gibt es eine Regel, die jede Hausfrau instinktmäßig erfühlt, einen Goldnen Schnitt, dessen Nichtbeobachtung sich durch den Eindruck einer kulturlosen Stilwidrigkeit rächen würde. Eine Handbreit zu hoch, und das Ganze bekommt einen undefinierbaren Stich in die Halbwelt, eine Handbreit zu tief, und Du glaubst die überzüchtigen Spitzenhöschen der Frau Witwe Ermerance de Champ d’Azur zu sehen. Nein, das muß man im Auge und im Griff haben. Grade so hoch, daß die Spitzenpracht unberührt über der grünen Zierpflanze in kupfeiner Vase oder über der Marmorfigur schwebt, die man von der Hochzeitsreise aus Italien mitgebracht hat.

Der Vorhang ist ein Thema, über das man Bücher schreiben könnte. Zwischen jenem pathetischen Vorhang, der bei der Tragödie von Golgatha mit Erd- bebenbegleitung zerriß, und dem frivolen Spitzengebilde, das unsere Frauen als Symbol einer vornehmen Haushaltung ins Fenster hängen, gibt es massenhafte Varianten. Im Leben manches Meuschen hat ein Vorhang eine entscheidende Rolle gesprelt. So im Leben des bekannten jungen Mannes von Saïs, von dem man nie erfahren konnte, was er hinter dem verbotenen Vorhang erblickte, so auch im Leben eines meiner Freunde, der eines Tages in Arles - oder war es in Aoignon? - an einem Hausgang den Vorhang lüftete, der dort die Stelle der Türe vertrat, und diejenige sah, die er nie mehr vergessen konnte.

Die entscheidendste Rolle aber spielt in unser aller Leben der Vorhang, von dem am Schluß der Vorstellung - ob Komödie, Drama, Tragödie, Oper oder Operette, „King Lear“ oder «Ta Bouche» - das Schicksal sagen wird: Vorhang fällt.

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  • cultural object: linen
KatalognummerBW-AK-011-2503