„Ihr Vater ist, soviel ich weiß, an einem Leberleiden gestorben,“ sagte ich zu der alten Frau.
„Nein, an gebrochenem Herzen,“ sagte sie mit leisem Vorwurf in der Stimme. „Es hat ihm das Herz gebrochen, als meine älteste Schwester nach Amerika ging. Sie war sein Liebling, aber sie hatte ihren „Bursch“ lieber, als ihren Vater, und folgte ihm nach Amerika. Sie hatte es nie zu bereuen. Sie haben sich drüben tüchtig heraufgearbeitet, der Mann ist vor ein paar Jahren gestorben, und in den amerikanischen Zeitungen stand, daß siebenunddreißig Kinder und Enkel auf dem Begängnis waren. Mein Vater hat es nie verschmerzt. Ein Jahr, nachdem meine Schwester in Antwerpen aufs Schiff gegangen war, ist er gestorben, das Herz ist ihm gebrochen.“
Ich wollte nicht widersprechen. Aber ich hatte von einem Leberleiden gehört, das den alten Mann hingerafft hatte. Das war freilich weniger poetisch. Die Leber pflegt in der Poesie kaum verwandt zu werden, außer in den Leberversen, in denen immer mit der Feststellung begonnen wird, daß sie von einem Hecht ist. Dagegen war ein gebrochenes Herz von jeher bei den Tichtern sehr beliebt, und es fiel stets ein Schimmer von Romantik auf den Toten, der an gebrochenem Herzen gestorben war. Wer wollte es einer guten alten Dame verdenken, daß sie sich in ihren Familienerinnerungen einen rührenden Roman zurecht legt. Sie sieht die Schwester Abschied nehmen, sieht sie nach dem Bibelwort dem Manne folgen, wohin ihn das Schicksal verschlägt, sieht sie zur Stammutter eines Geschlechts in fernen Landen werden, und sieht auf der andern Seite den greisen Vater, ganz wie in den Büchern, der Verschwundenen nachtrauern, ihr, seinem Sonnenstrahl, seinem Augapfel - in Wirklichkeit war sie vielleicht gar nicht so liebenswert? - und kann nicht vergessen, wie er einem Lichte gleich erlosch, den Namen der geliebten Tochter auf den blassen Lippen.
Es ist gut, daß sich wenigstens einige Menschen aus häßlichen Wirklichkeiten schöne, farbige Erinnerungen die Wirklichkeit am häßlichsten und grausamsten die Menschheit antritt, da wußten wir über sie den Schleier beschönigender Einbildung zu breiten. Noch heute sträubt sich die schlichte Phantasie des Volks gegen die Klarheit, die die Wissenschaft über alle Krankheiten zu verbreiten gesucht hat. Wie das Volk den Wurzeln und Kräutern, die von einer alten Muhme in Wald und Feld gesammelt werden, größere Heilkraft beimißt, als allen teuern Pulvern und Pillen und Tränkchen aus der Apotheke, so hält es auch gegen die gelehrte Terminologie der Herren Doktoren an seinen alten Krankheitsbezeichnungen fest, die ihm etwas bedeuten. Was sagt ihm Erysipel? Gar nichts. Es ist ihm ein sinnloses Silbengeklingel. Aber „die Nos“ und gar die „verbellte Ros“! Und das Herz gespannt! Und die Midderchen! Dabei läßt sich etwas denken. Der Wolf, der Brand, der Krebs, das sind Krankheitsnamen, bei denen die Volksseele vor direkter Anschauung erschauert. Aber wenn ihr jemand eine Lebercirrhose oder Leberatrophie statt eines gebrochenen Herzens unterschieben will, dann wendet sie sich mit milder Verachtung ab. Und sie hat recht. Man will doch auch etwas fürs Gemüt haben.