Original

2. Dezember 1923

Kürzlich fand sich in unserm Einlauf folgende Karte:

„Wäre es Ihnen nicht möglich, die Romanbeilage erst der Sonntagsnummer hier in der Stadt beizufügen, da ich und sicher noch viele andere Ehemänner uns Samstags nicht gerne mit Weinsaucisse abspeisen lassen. - Hochachtend - Einer mit Frau und siebzehnjähriger Tochter.“

Ich muß sagen, den Mann beneide ich. Seine Karte läßt tief blicken. Sie weckte in mir die Erinnerung an die schöne Zeit vor dem Krieg, wo das Essen noch ein Vergnügen, mitunter eine Kunst, aber keine Pflicht war, wie heute. Damals gab es zum Beispiel Wandkalender, die auf jeden Tag des Jahres einen Speisezettel enthielten. Und was für Speisezettel waren das! Jeder ein in sich abgerundetes, auserlesenes Kunstwerk, von dem Du sicher sein konntest, daß es Dir erstens einen ästhetischen Genuß und zweitens keine Indigestion verursachen würde.

Ich habe den Schreiber jener Karte im Verdacht, daß ihn seine Frau und siebzehnjährige Tochter vorkriegsmäßig verwöhnen. Denn wie könnte es ihm sonst einfallen, über Weinsaucisse zu nörgeln, die doch allgemein oder fast allgemein als Leckerbissen gilt! Die Hausfrauen raunen sich sogar als Beweis aufrichtiger Freundschaft den Namen des Metzgers ins Ohr, von dem sie sicher sind, daß er die beste Weinsaucisse macht. Und dieser Schlemmer schimpft darauf! Ja, mein Herr, was bekommen Sie denn sonst an gewöhnlichen Werktagen zu essen, zumal an Markttagen, wo Frauen und Töchter in der Regel auf den Markt gehen und sehr spät nachhaus kommen? Wollen Sie mich glauben machen, daß bei Ihnen zu jeder Mahlzeit Hummer, Lachs und Bärenschinken auf dem Speisezettel stehen! Denn wenn Sie Weinsaucisse als eine Art Schlangenfraß ansehen, mit dem Ihre Damen Sie abspeisen, wenn sie vor höherem literarischem Interesse keine Zeit für die Küche übrig haben, so müssen Sie sultanmäßig verwöhnt sein. Und Sie waren sehr vorsichtig, als Sie sich in den Schleier des Anonymats hüllten, denn wenn Ihnen der Fiskus auf die Sprünge käme, so müßten Sie für Ihren lukullischen Lebenswandel schwer bluten.

Umgekehrt glaube ich, daß es für Ihr Fräulein Tochter in Hinsicht auf ihre matrimonialen Aussichten von Vorteil wäre, wenn es in weiteren Kreisen bekannt würde, daß sie von ihrer Frau Mama zu einer so tüchtigen Köchin ausgebildet wird. Bei Ihnen käme es sicher nicht vor, daß ein Freier nach einiger Zeit die Tochter sitzen ließe und die Köchin heimführte.

Übrigens haben Sie besten Dank für die gute Meinung, die Sie von dem Erfolg unserer Romanbeilage bei der Damenwelt haben. Und wenn Sie wieder einmal mit Weinsaucisse abgespeist werden, so laden Sie mich bitte ein. Sie ist eines von meinen Leibgerichten. Und ein bißchen roter Kappes dazu ist auch nicht schlecht.

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KatalognummerBW-AK-011-2523