Original

4. Dezember 1923

Ein Abgeordneter, der dem Arbeiterstande angehört, sagte dieser Tage in der Kammer: „Andere reden hier vielleicht in der höheren Kathedersprache, ich bediene mich einer volkstümlichen Ausdrucksweise.“

Er meinte damit, einen stolz bescheidenen Ausspruch getan zu haben. Bescheiden, weil doch die Menge natürlich die Kathedersprache höher schätzt, als die Prosa, die auf ihrem Acker wächst, stolz, weil ein Arbeiter immer stolz sein darf, auch an der höchsten Stelle zu reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Leider verhält sich die Sache in Wirklichkeit anders. Erstens gibt es in unserer Kammer wohl keinen einzigen Redner, dessen Stil ans Katheder erinnerte, da nie einer je auf einem Katheder gestanden hat, ausgenommen Herrn @ Waha, und der war aus parteipolitischen Gründen nicht gemeint. Zweitens redet der Abgeordnete, der obigen Ausspruch getan hat, die typische Leitartikelprosa, mit einem leichten Schuß von Predigerton, also alles andere, als die Sprache des Volkes.

Das darf ihn nicht verdrießen, denn es entspricht einer von jeher beobachteten Erscheinung. Die Schlichtheit des Ausdrucks ist fast nie bei Angehörigen der Arbeiterschicht, viel eher bei Leuten von raffiniertester Geistesbildung anzutreffen. Von Heine zum Beispiel weiß man, daß er seine Verse dutzendmal durchstrichen, verbessert, wieder verbessert und wieder durchstrichen hat, um den volkstümlichen Ton zu treffen. Der ist also gar nicht so einfach und so leicht, daß man ihn aus dem Ärmel schütteln könnte. Alle Primitiven haben die Vorliebe für die stilistische Gehobenheit des Ausdrucks miteinander gemein, ihre Schriften und Reden sind in diesem Betracht die wertvollsten klassenpsychologischen Dokumente. Darum ist es beispielsweise ein Verbrechen, wenn irgend ein Magister ein Arbeitertagebuch in sein Schuldeutsch umverbessern zu sollen glaubt und ihm dadurch jede Originalität raubt.

Es geht den Primitiven mit der Sprache, wie dem Bauer mit dem Mostrich. Sie sehen, wie die @ die sie um ihre Bildung beneiden, mit sinnschwan@ Worten spielen, die Kostbarkeit des Ausdru@ ihnen neu, es ist ihnen ein sozusagen ästhets@ Genuß, ihre Gedanken in vornehmem Gewand hin@ zuschicken, ihre Geisteskinder, denen sie auch einma@ reichen Gewänder des Herrenmenschentums anzi@ dürfen. Sie sagen: „Ich muß bedauerlicherweise @ stellen, daß die Eisenbahnverwaltung noch immer @ den berechtigten Wünschen der Arbeiter Rech@ getragen hat.“ Herr Galles im Stadtrat würde @ sagen: „Diese verdammte Bande pfeift die Arb@ noch immer voll!“ Denn Herr Galles redet wi@ die Sprache des Volkes und nicht die höhere Kath@ sprache, deren sich einzelne seiner Klassengenossen@ dienen. Er redet im Stadtrat, wie im Atelier, @ von der Leber, ohne Pathos, aber mit Wucht, @ eine Bildung vortäuschen zu wollen, die er sich mü@ angelesen hätte und die nur aus Wörtern, dar@ hinaus aus einem unklaren Gefühlschaos bestän@

Es ist freilich schwer, in unserer Kammer die sch@ Sprache des Volkes zu reden, da unsere Mundar@ uns mehr als Mundart, die uns Muttersprache @ der Kammer verboten ist. Aber es wäre imme@ doch möglich, ein hochdeutsches Äquivalent dafü@ reden. Freilich muß einer dann deutsch können. @ de Villers zum Beispiel kann, zumal im Affe@ einen recht volkstümlichen Stil verfallen.

Wenn aber einer im schönsten Kanzeldeutsch @ Reden hält und sich einbildet, er treffe den volk@ lichen Ton, so ist er zu bedauern.

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