Original

9. Dezember 1923

Was Höflichkeit sei, fragen Sie, Gnädigste?

Höflichkeit ist Moral im Umgang. Höchste Moral sogar. Denn ihr liegt das oberste sittliche Gesetz zugrund: „Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“

Es gibt nur eine Höflichkeit, die Höflichkeit des Herzens, wie der Franzose sie nennt. Was man gewöhnlich unter Höflichkeit versteht, das sind Formeln und Formen, die an und für sich nichts zu bedeuten brauchen, die als Gesäß der wahren Höflichkeit dienen können, die sich zu ihr also verhalten, wie jedes Gefäß zu seinem Inhalt, wenn dieser die Hauptsache ist. Sie können unter Umständen weiter nichts bedeuten, als eine Lüge, eine glatte Eisdecke, unter der die Quelle versickert ist.

Das Ideal wird Wirklichkeit, wenn beide, Höflichkeit des Herzens und Höflichkeit der Formen zusammen treffen. Ist aber nur das eine von beiden zu haben, so wähle die Höflichkeit des Herzens. Sie ist das Kapital, das andere sind die Zinsen, die im Nu verbraucht sind.

Es gibt eine Höflichkeit, die darin besteht, daß man weiß, wann man Handschuhe zu tragen hat, wann man Frack, Smoking, Gehrock, Cutaway anlegt, wann man Besuche macht, wann man der Dame des Hauses Blumen bringt, ob und wie man ihr die Hand küßt, ob man Graf oder Herr Graf sagt, daß man Fisch nicht mit dem Messer essen darf und Brot bei Tisch nicht schneiden, sondern brechen soll. Aber das hat mit Höflichkeit nur insofern zu tun, als es sich unter jenes oberste Moralprinzip subsumieren läßt. Sonst ist es nur eine Art gesellschaftlicher Freimaurerei ohne inneren Wert. Ihr lacht über einen Mann, der sich mit der Gabel das Stück Brot vom Teller sticht. Er ist nicht lächerlicher, als Ihr, wenn Ihr den Zucker mit der Zuckerzange ergreift. In England weiß der gut erzogene Mann, daß er auf der Straße leine Dame, auch wenn er sie noch so gut kennt, grüßen darf, sondern daß er warten muß, bis sie ihn zuerst grüßt und damit zu erkennen gibt, daß sie sich auch in der Öffentlichkeit zu ihm bekennt. Hierzulande gälte das soviel, wie wenn der Herr die ihm bekannte Dame schneiden wollte, und er würde von ihrem Gatten dafür zur Rechenschaft gezogen. Seht Ihr, daß der Höflichkeitskodex, auf den wir uns so viel zugute tun, nur lokalen, keinen prinzipiellen Wert hat!

Nun gibt es auch eine Höflichkeit, die wirkt, wie die Erdgeschoßfenster, die sehr hoch über dem Trottoir liegen: Vornehm und abweisend, Sie bedeutet: Ich weiß, was sich schickt, aber bleibt mir gefälligst zehn Schritt vom Leib. Das ist ein Mißbrauch der Höflichkeit zu egoistischen Zwecken.

Die liebenswertesten Menschen sind immer die, die sich über die Äußerlichkeiten der Höflichkeit hinwegsetzen dürfen, weil niemand ihnen eine wirkliche Unhöflichkeit zutraut. Merket: Manche Leute können grob sein, ohne unhöflich zu sein, während andere schweifwedelnd der wahren Höflichkeit ins Gesicht schlagen können. Wer im Herzen gut erzogen ist, bleibt im Herzen immer höflich. Denn es gibt auch für das Herz eine Kinderstube. Die läßt sich nicht durch Drill, nicht durch Schule, Kaserne und Kontor ersetzen.

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