Der elektrische Fächer-Ventilator an der Decke dreht sich langsam, mit leisem Surren, und über den Flor seiner Scheibe kriechen die blinkenden Reflexe wie Flügel, die sich gleich trägen kleinen Windmühlenflügeln zitternd herumschwingen. Der Primgeiger setzt die Violine unters Kinn, hebt den Bogen, drückt noch einem Bekannten ein Auge zu und fiedelt los. An einem Tisch sitzt eine Gesellschaft aus Lüttich, Damen und Herren. Beim ersten Takt leuchten ihre Augen auf, beim zweiten fährt es ihnen schon in die Arme und Beine, und der Primgeiger weiß, daß er mit dieser Nummer ins Schwarze getroffen hat.
Kennen Sie die Lütticher Cramignons? Denn das war es, was den Damen und Herren aus Lüttich so ins Blut ging. Die tollen Tanzweisen, zu denen die temperamentvollen Wallonen ihre Reigen durch die Straßen schlingen.
Die Lütticher Cramignons! Bei mir stören sie seltsame Zusammenhänge auf zwischen Vorstellungen brausender Lebensfreude und Lehren hausbackener Lebensweisheit. Denn an ihnen lernte ich, daß man nicht nur die Menschen, die zu einem ins Haus kommen, auf ihr wie und was und wer ansehen soll, sondern daß man auch Begriffe in seinem Kopf nichts auf Geratewohl sich ansiedeln lassen darf.
Ich war noch sehr jung, als ich zum ersten Mal nach Lüttich fuhr. Unterwegs hörte ich ein paar Herren im Speisewagen untereinander von den Lütticher Cramignons reden. Sie hatten grade vorher von den Kouks de Dinant gesprochen. Was konnten also Cramignons anderes sein, als eine gastronomische Spezialität von Lüttich? Cramignons! Sie müssen zugeben, daß das nach essen und trinken kingt. Krametsvögel, Kramellen, Krambambuli usw.
Ich also in Lüttich in die erste Konditorei hinein, um Cramignons zu kaufen. Die Verkäuferin war ein hübsches junges Mädchen mit einem gescheiten Gesicht, in dessen großen braunen Augen ein Ausdruck von sachlicher Wißbegier, aber doch ruhiger Beschlossenheit war.
„Fräulein, ich möchte Cramignons. Lütticher Cramignons.“
„Ich verstehe,“ sagte sie. „Kennen Sie die Cramignons?“
„Nein, aber ich möchte einmal davon essen.“
In diesem Augenblick erwachte der Schelm in ihrem Busen. Das muß ich wenigstens annehmen, denn sie sagte:
„Und wieviel darf ich Ihnen davon geben?“
„Wie verkaufen Sie die Dinger? Nach Zahl oder Gewicht?“
Auf dem Ladentisch standen allerhand Süßigkeiten und Leckerbissen. Noch wußte ich nicht, was davon die Cramignons waren. Sie sicher auch nicht. Sie entschied sich rasch für eine Schüssel voll des Gebäcks, das wir hier „verwuerelt Gedanken“ nennen.
„Dies sind unsere Cramignons. Es ist die beste Qualität. Sie kosten ein Franc zwanzig das Vierteipfund.“
„Ich nehme ein Viertel.“
Sie müssen zugeben, daß die junge Dame Phantasie hatte, daß sie sozusagen mit den Ohren sah. Ich wüßte wahrhaftig nicht, auf welches von den andern Produkten der Zuckerbäckerkunst, die auf der weißen Marmortheke und an den Wänden hinaufstanden, das Vokabel Cramignon so vorzüglich gepaßt hätte, wie auf dies verworrene, verwurzelte, verschlungene Gebilde, das ich jetzt in einer großen Düte heimtrug.
Ich aß einiges von dem Gebäck, das meiste brachte ich mit nach Luxemburg. Denn wenn man echte Lokalerzeugnisse aus fremden Städten mitbringt, legt man immer Ehre damit ein.
Einige Tage später geriet ich mit Bekannten in ein Gespräch über Lütticher Cramignons. Sie sagten, das seien Reigentänze, die bei lustigen Anlässen in Lüttich durch die Straßen ziehen, ich lachte höhnisch auf, erbot mich, ihnen Cramignons von Lüttich, aus Lüttich selbst mitgebracht, eine ganze Düte voll zu zeigen.
„Sind sie auch mit Musik?“ frugen sie heimtückisch. Ich verschmähte es, mich weiter mit solchen Ignoranten herumzubalgen.
Ähnlich erging es einem Kollegen von mir mit dem Wort Steeplechase. Er hatte ihm auch, wie ich den Cramignons, auf den bloßen Klang hin Aufnahme in seinen Begriffsschatz gewährt. Eines Tages schrieb er eine Skizze nach Art der Vigilien von Ernst Koch und ließ darin seinen Helden sich in der Neujahrsnacht gemütlich auf einer Steeplechase wiegen. Er hatte sich darunter einen Schaukelstuhl vorgestellt: Chase = Chaise = Stuhl. Und von steeple zu stippeln und schaukeln war auch nur ein Schritt.
Die Geschichte stand um 1880 im Feuilleton des „Luxemburger Wort“.