Original

18. Dezember 1923

Der Engländer Galsworthy hat vor Jahren einen Roman „Moderne Pharisäer“ gegen die englische Gesellschaft geschrieben. Der größte Pharisäer ist er selbst. Aber das ist eine andere Geschichte, pflegt Rudyard Kypling zu sagen, nachdem der Amerikaner O. Henry es schon geraume Zeit vor ihm gesagt hatte.

In dem Buche Galsworthy’s kommt ein junger Mann vor, der sich mit einem jungen Mädchen verlobt und eines Tages einfieht, daß sie ihn nicht versteht und ihn gerne los sein möchte. Er macht kurzen Prozeß und schreibt der Mutter, er habe einen kranken Zahn, den er sich ziehen lassen müsse, sie möge seine plötzliche Abreise entschuldigen.

Dieser junge Mann ist im übrigen der Typus des jungen Gent, dem Sport, Körperpflege, alle Formen der englischen Außenkultur der guten Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen sind. Um so mehr nimmt es wunder, daß er sich plötzlich auf einen kranken Zahn beruft. Kranke Zähne darf ein wohlerzogener junger Mann heute nicht mehr haben. Die Zahnpflege von klein auf gehört zu den elementarsten Erfordernissen einer normalen Kinderstube. Wenn ein junger Mann heute schlechte Zähne hat, so wirkt das ähnlich, wie wenn er schwarze Fingernägel oder Löcher im Strumpf hätte.

Die Zahnheilkunde hat die Menschheit von einem Übel befreit, das früher wie eine Fügung Gottes hingenommen wurde. Man hatte schlechte Zähne, wie man einen Buckel oder Sommersprossen oder Klumpfüße hatte. Zahnlücken gehörten zu den besondern Merkmalen eines Individuums. Von zehn Bauernfrauen gingen neun bei schlechtem Wetter mit einem wollenen Tuch ums Gesicht und mit geschwollenen Backen ihrer Arbeit nach. Das gehört heute ins Gebiet der Karikatur. Man kann schon Taglöhnerfrauen mit Goldplomben sehen. Der Zahnarzt ist für unser Gebiß, was der Beichtvater für die Seelen ist. Man geht zu ihm nicht mehr hauptsächlich zum Heilen, sondern zum Verhüten. Unsere Zähne sind heute gesund, weil jedermann von der Notwendigkeit überzeugt ist, sie rein zu halten von Speiseresten, die sich zersetzen und den Zahnschmelz angreifen, von Fremdkörpern, die schädliche Säuren bilden.

Da haben wir also im Kleinen einen Fall, wo wir uns von einem Übel befreit haben, das in früheren Zeiten Vielen, man kann sagen den meisten im Volk als unabwendbar galt. Es braucht nur eine Zahnbürste und ein wenig Schlemmkreide. Manche gebrauchen sogar Zigarrenasche. Sie sehen, dies ist keine Reklame für eine Zahnpasta, sondern eine Moralpauke an die Menschheit. Denn warum sollen wir uns nicht auf ähnliche Weise von andern, viel größern Übeln befreien können, wenn wir es aufrichtig wollen?

Am schärfsten werden die Zähne angegriffen, wo sie sich berühren und wo sich die schädliche Substanz am leichtesten festsetzt. Am meisten hassen sich die Völker, wo’ sie unmittelbar aneinander stoßen, der Grenzhaß ist eine Erscheinung so alt, wie die hohlen Zähne waren, ehe sie durch Reinhalten vermieden wurden.

Wäre es denn so schwer, durch moralische, ethische Reinlichkeit alle die Fremdkörper wegzuputzen, die an den Völkern fressen? Die Verleumdung, die Lüge, die übertriebene Selbst- und Gewinnsucht, die Überhebung, die Eingebildetheit, alle fauligen Rückstände des gesunden Kampfes ums Dasein?

Und werden wir dann nicht eines Tages aufhören, den Krieg als ein unabwendbares Übel zu betrachten, wie früher die faulen Zähne?

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