Original

19. Dezember 1923

An Herrn Eduard Doncols, in oder bei Thann i. Elsaß.

Lieber Herr Doncols! Ich kenne Sie nicht und Sie kennen mich wahrscheinlich ebensowenig. Aber Sie möchten mich gerne glücklich wissen, und das ist sehr nett von Ihnen.

Leider meinen Sie es mit mir offenbar besser, als ich selbst, wie Sie gleich sehen werden.

Sie schicken an mich eine der bekannten Glücksketten, zu denen ein amerikanischer Offizier das erste Glied geschmiedet haben soll. „Schreiben Sie dies ab und schicken Sie es an neun Personen, denen Sie Glück wünschen. Die Kette wurde von einem amerikanischen Offizier begonnen und muß dreimal um die Erde gehen. Zerreißen Sie die Kette nicht, sonst wird Ihnen ein Unglück zustoßen. Verschicken Sie diese Liste innerhalb vierundzwanzig Stunden, so werden Sie in den ersten neun Tagen ein großes Glück erleben.“

Darunter stehen schon zirka hundert Unterschriften, die letzte ist Ihre, Herr Doncols, und ich soll nun die Kette weiterführen.

Das tue ich nicht. Ich weiß bestimmt, daß ich sowieso in den ersten neun Tagen ein großes Glück erleben kann, wenn ich nur will, und daß ich das Unglück, das in der Zukunft auf mich lauert, nicht abwenden kann. Ich werde dann wenigstens den Trost haben, daß ich weiß, wem ich es zuzuschreiben habe.

Ich habe also die Glückskette in den Papierkorb geworfen, Herr Doncols. Dort ruht sie zugleich mit dem Angebot eines deutschen Weinhändlers, der mir Meselwein zu 30 Franken und Rheinwein zu 250 Franken die Flasche offeriert - mit einem Aufruf zu einer Hilfsaktion für Deutschland, wo zurzeit solche Weine gekauft und getrunken werden, und mit dem Brief einer spanischen Schatzgräberbande, die mir die Hälfte von 80 000 Franken verspricht, wenn ich ihr das Reisegeld bis an den Ort, wo die Summe verborgen liegt, einschicke.

Diese drei hatten wenigstens einen greifbaren Zweck. Die Glückskette des amerikanischen Offiziers hat keinen. Höchstens daß sich daran die Phantasie von Backfischen entzünden kann, die für olive drap schwärmten. Aber die Mode ist doch wohl vorbei.

Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Doncols, daß ich die Keite zerreiße. Ihnen und den andern Gläubigen kann das ja nichts schaden, Sie haben der Glücksgöttin gegenüber Ihre Schuldigkeit getan. Ich tue nicht mit. Erstens schrecke ich davor zurück, die ganze Liste neunmal abzuschreiben und neunmal das Porto dranzuwenden. Und dann, sagen Sie einmal selbst: Es tritt plötzlich aus der Masse ein Unbekannter auf sie zu, nimmt Sie bei der Hand und sagt: Jetzt wollen wir zweibeide um unser Lebensglück tanzen, dreimal um den Erdball herum, sehen Sie diese fünfundneunzig da hinter mir tanzen auch mit, und die nächsten neun Bekannten von Ihnen, die uns über den Weg laufen, sollen auch mittanzen, dreimal um den Erdball, hinter einem amerikanischen Offizier her - was würden Sie dem antworten?

Ich bin nicht so, Herr Doncols, daß ich mein mit Füßen stoße. Aber ich muß wirklich danken. Wo Sie sonst ein gutes Geschäft wissen, bei dem man in Ruhe und Zuversicht 15-20 Prozent einheimsen kann, so bin ich Ihr Mann. Und wenn ich es recht bedenke so bin ich Ihnen auch so schon Dank schuldig, daß ohne Ihre Zusendung hätte ich heute morgen wirklich nicht gewußt, was ich schreiben sollte.

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KatalognummerBW-AK-011-2537