Original

28. Dezember 1923

Ab und zu muß man sich im Zeitungsschreiberberuf als Briefkasten fühlen. Als redender Briefkasten, der seinen Inhalt mit Nachdruck auskramt.

Heute zum Beispiel liegen zwei Sachen im Briefkasten. Beide von Damenhand. Sie betreffen beide Angelegenheiten von zweifellos öffentlichem Charakter: die Trambahn und das Glockenspiel.

Der einen muß ich recht und der andern kann ich nicht unrecht geben.

Die eine bittet mich, für eine Trambahn-Wartehalle am Bahnhof einzutreten.

Inmitten der Schleife, die seit einiger Zeit auf dem Bahnhofplatz die Wagen der Elektrischen fahren, ist ein reizendes Blumenbeet hergerichtet. Es ist eine Augenweide inmitten der Unruhe und nicht immer erfreulichen Buntheit des Treibens, das sich dort entfaltet. Es hat in den Augen der Dame, die mich als Briefkasten zu benutzen mir die Ehre erweist, nur den einen Fehler: Man kann es nicht gebrauchen, um sich bei Regen, Schnee und Kälte unterzustellen, bis die Farbe fährt, auf die man grade wartet. Und Sie wissen ja, wenn Sie grün fahren wollen, fährt erst die ganze Regenbogenskala inklusive weiß, ehe Sie dran kommen. Die ganze Zeit über müssen Sie unter freiem Himmel warten. Bei schönem Wetter hat das keine Unannehmlichkeiten. Regnet, schneit oder friert es, so können Sie sich allerdings in der Bahnhofhalle unterstellen, aber dann riskieren Sie, daß Ihnen der Wagen grade vor der Nase fortfährt.

Es wurde im Stadtrat schon oft über geeignete Stellen für Trambahnwartehallen diskutiert. Wenn je eine zu diesem Zweck geschaffen war, ist es diese. Eine solche Halle wäre für billiges Geld zu erstellen, wenn man darauf verzichtet, sie in kostbaren Hausteinen und in Tempelform zu erbauen. In Brüssel und Paris stehen an den verkehrreichen Kreuzungsoder Endpunkten Bauten aus Holz und Glas, die ihren Zweck sehr wohl erfüllen, und in ihrem Aussehen den raschen, leichten und flotten Verkehr sogar ästhetisch besser symbolisieren, als Steingebilde, deren Massigkeit durch ihre winzigen Proportionen ironisiert wird.

Nun bilden Sie sich nicht ein, sehr verehrte gnädige Frau, daß diese Anregung das Mindeste in der Richtung auf die Erfüllung Ihres Wunsches zuwege bringen wird. Aber wir sind damit an die Öffentlichkeit gedrungen, und es ist immerhin eine größere Genugtuung, keine Wartehalle bekommen, aber sie in der Zeitung verlangt haben, als sie nicht verlangt haben und sie auch nicht bekommen.

Die zweite Angelegenheit ist das Glockenspiel. Die Dame, der dies am Herzen liegt, behauptet, es spiele falsch. Der Hämmelsmarsch und der Feierwon seien schlechterdings nicht zu erkennen.

Vielleicht hat sie recht, und vielleicht haben die Musiksachverständigen recht, die vor zirka dreißig Jahren das damals neu hergerichtete Glockenspiel kritisch beklopft und zur Annahme empfohlen haben.

Dies Glockenspiel hat eine Geschichte. Es hat einen braven Mann das Leben und eine rühmlichst bekannte Firma aus dem Elsaß viel Geld gekostet. Dicks hat darauf, wenn ich nicht irre, sein Liedchen „Klenkt et net, da rabbelt et dach“ gedichtet, im Stadtrat war es lange Zeit ein Astknoten, an dem sie jahrelang sägten, um 1895 herum wurde es nach vielem Ach und Krach in seinen heutigen Stand gesetzt. Und die älteren Luxemburger sind daran so gewohnt, daß sie nicht mehr hören, ob es falsch spielt - wenn es wirklich falsch spielt. Und wenn die junge Dame, die sich heute darüber beklagt, einmal eine ältere oder sogar eine alte Dame geworden sein wird - was noch sehr lange dauern möge - so wird sie über Manches im Leben, was ihr heute falsch klingt mit Nachsicht und Wehmut hinweg sehen und freuen, daß ihr daraus ein Stückchen ihrer Jugend noch entgegen tönt. Das klingt nie falsch.

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