Original

4. Januar 1924

Ein Engländer reiste jahrelang einer Menagerie nach, in der ein Tierbändiger dressierte Berberlöwen vorführte. Eines Tages frug der Tierbändiger den Engländer, warum er seit Monaten in allen Vorstellungen zu sehen sei:

„Ich will dabei sein, wenn Sie von Ihren Löwen aufgefressen werden,“ sagte der Engländer.

Da auf dem Grund jeder Menschenseele ein gut Teil Grausamkeit schlummert, so falle ich nicht aus meiner Rolle als Mensch, wenn ich gestehe, daß ich dieser Tage eine ähnliche Neugieranwandlung hatte.

Es war am Weihnachtstag im Peiffeschberg. Sie kennen den Peiffeschberg. Er führt von Mühlenbach nach Bridel und ist nach dem Grundsatz gebaut: Die Grade ist der kürzeste Weg von einem Punkt zum andern. Er datiert aus einer Zeit, wo sich die Verweichlichung noch nicht der ganzen Menschheit von oben bis unten bemächtigt hatte, wo unsere Altvordern sich noch nicht schlau an dem Bibelfluch vorbeidrückten, wonach sie im Schweiß ihres Angesichtes ihre Lebenspfade wandeln sollten. Der Peiffeschberg führt steil und fast schnurgerade die Höhe hinauf. Lange meinten die Leute, er führe nur hinauf. Bis die Rodler entdeckten, daß er auch hinunter führt. Und so kam es, daß sie am Weihnachtstag zu Dutzenden hinaus- und hinunterzogen, ihre Davoser wie Dackel an der Leine, und sich bis zur Dunkelheit dem Vergnügen des Rodelns hingaben.

Dies besteht darin, daß sie zwanzig Minuten lang bergauf steigen und eine Viertelminute lang bergab sausen. Aber diese Viertelminute enthält in sich die zwanzig andern Minuten, wie ein Tausendfraneschein die tausend einzelnen Franken enthält, die man zusammensparen muß, um den Tausender zu bekommen.

Sie sausten also den Berg herunter in einem rasenden Tempo - nach obiger Rechnung zirka 80 Kilometer in der Stunde - hopsten unten über die Schienen des Charly und fuhren noch eine ganze Strecke jenseits der Brücke den Verg hinauf - jeviel Kraft und Schwung hatten sie im Heruntersausen aufgespart. Sie waren wie Betrunkene, deren Schnaps die Schnelligkeit war. Je schneller, um so stärker. Und ich wartete darauf, daß einer Hals und Bein bräche, wie der Engländer darauf wartete, daß die Löwen den Dresseur fräßen.

Was haben wir alle nur im Leib, daß wir auf das Hinsausen so verrückt sind? Daß wir um jeden Preis schneller vorankommen wollen, als uns unsre Beine tragen? Sicherlich träumen Pferd und Hund, Hase und Reh, Löwe, Kamel, Gazelle, Schwalbe, Adler und alles was da kreucht und fleucht nie davon, daß sie schneller laufen oder fliegen möchten, als ihre Beine und Flügel sie tragen können. Freilich begnügt sich auch alles Getier im Essen, Trinken und bei der Befriedigung sonstiger Bedürfnisse mit der Deckung seines normalen Bedarfs und kennt keine Exzesse. Darin unterscheidet es sich bekanntlich vom Menschen. Daß der Unterschied sich auch auf die Stillung des Raumhungers erstreckt, haben wir eben festgestellt.

Irgendwie muß bei alledem der Umstand in die Wagschale fallen, daß uns allein von allen Lebewesen der Herr nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Es ist unsere Gier nach Gottähnlichkeit, die uns über alle Grenzen treibt. Der Herr hat uns den kleinen Finger gereicht, wir möchten gleich nach dem Ellbogen greifen. Daß uns dann der Herr ab und zu auf die Finger klopft, ist begreiflich. Und ebenso begreiflich ist, daß sich seit dem ersten Mal, wo uns dergestalt auf die Finger geklopft wurde, bis heute noch nichts geändert hat. Damals war es die Eva, der zulieb der Adam nach Gottähnlichkeit in Gestalt des Apfels die Hand ausstreckte, und sie ist bis auf den heutigen Tag die Anstifterin geblieben. Wo sich einer beim Rodeln den Hals bricht, wo einer mordet, stiehlt, betrügt, nach Reichtum, Ruhm, Macht strebt - immer sagt die Welsheit der Völker: Cherchez la femme!

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