Original

5. Januar 1924

M. Esch spielt in dem Feuilleton, das er gestern morgen in diesem Blatt veröffentlichte, auf das leidenschaftliche Interesse an, mit dem von den gebildeten Franzosen das Werk André Thérive’s: «Le Français langue morte?» erörtert wurde.

Zu der Frage hat in jüngster Zeit auch ein Deutscher Stellung genommen mit der Schlußfolgerung, daß nicht das Französische, wohl aber das Deutsche eine tote Sprache sei. Und er mißt der Sprache eine noch viel größere Bedeutung bei, als es M. Esch in seinem Aufsatz übereinstimmend mit Anatole France, Victor Hugo, Maurice Barres u. a. m. tut.

Es ist Franz Blei, der 1922 bei Ernst RowohltBerlin sein „Großes Bestiarium der modernen Literatur“ hat erscheinen lassen, ein Buch, das in seinem ersten Teil, dem eigentlichen Bestiarium, voll getüftelter Boshaftigkeiten ist, in den angehängten zehn Exkursen tiefschürfend und kaustisch allerhand Problemen auf den Grund geht und zum Schluß in selbsterfundenen Anekdoten, Buchtiteln und einer kleinen „Grammatik für Anfänger“ ein knuspriges Dessert aufträgt.

In seinem zehnten Exkurs, der von der deutschen Sprache handelt, schreibt Franz Blei zu dem eingangs berührten Thema:

„Ich will den Standpunkt des Naiven zu dem meinen machen und nicht im Leisesten glauben, daß die lauten Hüter der deutschen Sprache, seien es Abgeordnete, Professoren oder Studenten, ganz andere Moventia eignen. Will glauben, daß alle diese teutschen Männer Profit, Dividende, Bonus, Kapitalvermehrung, Avancement, Protektion usw. usw. vergaßen, als ob es nichts wäre, weil sie sich in dem Einen zusammenfanden: in der schweren Sorge um das bedrängte Kulturgut der deutschen Sprache. Und nicht etwa um solche in beiläufigem „Deutsch“ geredete Internationalismen wie „die nächste Zuckerkampagne soll bringen eine Erhöhung der Dividende um fünfzehn Prozent“, oder weniger gejüdelt, doch deutsch auch nur so geredet, daß es ebensogut botokudisch gesagt werden könnte: „die böhmische Industrie ist deutsch-völkisch und wird es bleiben immerdar, hie alle Wege, das walte Gott, ei Potz!“ Liest oder hört man unsere Nationalisten, so kommen einem ja schwere Bedenken, ob sie den hier angedeuteten Unterschied zwischen Sprache, die ein Kulturgut, und dem so Reden, was ein Verkehrsmittel ist, auch nur zu ahnen vermögen, denn in dem nationalistischen Neden ist meist nicht ein Satz deutscher Sprache zu finden, den sie je gebildet hätten. Sie bedienen sich deutscher Bezeichnungen, in Figuren und Wendungen geordnet, die sicher irgendwie aus der deutschen Sprache herkommen, aber gewiß nie wieder zu ihr zurückkehren, sie hütend, wahrend oder gar mehrend. Sie reden auf deutsch und sie meinen, sie sprächen deutsche Sprache. Sie reden auf deutsch, auch wenn sie ängstlich Fremdwörter vermeiden, wie ihre Sprachreiniger es fordern, die wissen sollten, was die Nationalisten nicht zu wissen brauchen: daß das Deutsche so etwas wie eine tote Sprache ist - was nicht bedeutet, eine nicht mehr gesprochene. Ohne weiter fremdartig zu wirken, gehen alle Neubildungen römisch-griechischer Art in den Besitz jener Sprache über, die man Tochtersprachen des Romanischen nennt, besonders des Französischen, welches die Lehnssprache ist, die man auf französischem Boden heute spricht, wo das autochthone Baskisch und Bretonisch so gut wie ganz verschwunden sind, in welchen beiden Sprachen das Wort „Automobil“ ein Fremdwort sein würde, das es im Französischen gar nicht und im Englischen nur bei dichtenden Fanatikern des Angelsächsischen - und das es im Deutschen immer ist. Denn das Deutsche ist als eine autochthone Sprache längst fertig in seinem wesentlichen Bestand an Wörtern wie an Grammatik.“

Ich könnte die Gänsefüßchen noch ein paar Seiten weiter rücken, breche aber lieber hier das Zitat ab, um diejenigen Leser, die für Dinge des Geistes Interesse haben, vielleicht zu veranlassen, sich ein Buch zu kaufen, in dem so Anregendes über Angelegenheiten gesagt wird, die zu einem großen Teil auch unsere Angelegenheiten sind.

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KatalognummerBW-AK-012-2549