Vielleicht gibt es unter meinen Lesern den einen oder andern, der für einen Betrag zwischen 17 einhalb Goldmark bis 75 Dollar sich einen Schatz sichern will, um den ihn jeder musikalische Mitmensch beneiden wird.
Ich meine die Faksimile-Ausgaben, die der Drei Masken Verlag, München, Karolinenplatz, von den handschriftlichen Partituren Richard Wagners veranstaltet.
Ergriffenheit ist ein Wort, das nicht zuviel besagt, wenn man von den Empfindungen jedes geistig Interessierten beim Anblick einer solchen Partitur spricht.
Die Musik Richard Wagners ist heute um uns man möchte beinahe sagen wie die ganze sinnenfällige Welt. Wir nehmen sie hin als etwas Kosmisches, Elementares, Selbstverständliches, wie Luft und Licht, Berge, Wälder, Meer und Himmel, wie Trauer und Lust, Schuld und Erlösung, wie alles Urgeschaffene und aus der Schöpfung Erblühte.
Zuweilen fällt uns ein, daß das alles nicht immer da war, daß es erst werden mußte. Wie, wenn wir dem Schöpfer bei seiner Arbeit auf die Hände hätten sehen können!
Hier ist dies Unausdenkbare zur Wirklichkeit gemacht. Die technische Vollkommenheit des Verfahrens gibt durchaus die Illusion des Originals. Jeder Graphologe wird im Anblick dieser Züge schwelgen, die Zierlichkeit mit Schwung, peinliche Präzision mit anmutigstem Fluß vereinen, in der Zartheit der Striche und ungestüm anschwellende Kraft etwas wie ein Diagramm seelischer Beben darstellen. Auf Seite 254 der Partitur von „Tristan und Isolde“ steht unten am Schluß des zweiten Aufzugs: „R. W., Venedig, 18. März 1859.“ Wagner war nach vielfachem Aufenthaltswechsel am Canal grande im Palazzo Giustiniani zur Ruhe gekommen und hatte dort den zweiten Akt vollendet. Man wird beim Anblick der Seite von dem Eindruck förmlich überwältigt, als habe sich die Hand des Komponisten grade erst vom Blatt gehoben, als haben erst vor Sekunden seine Augen sich weggewandt, als gehe sein Atem noch durch den Raum, als schwebten über den Blättern noch die erregten Geister, die seinem Genie aus dem All die Stimmen des „tönenden Schweigens“ zugetragen.
Den musikalisch interessierten Lesern ist sicherlich ein Dienst damit geleistet, wenn aus dem Prospekt des Verlags das Wesentliche hier wiedergegeben wird:
„Von den „Meistersingern“ erscheint das Vorsp gesondert, um seine Anschaffung auch denen zu ermöglichen, denen die Reproduktion des vollständigen Werkes unerreichbar geblieben ist. - Als Gegenstände der mit größter Begeisterung aufgenommenen Wiedergabe dieses Monumentalwerkes veröffentlichen die Partitur von „Tristan und Isolde“. Das Autograph, nach mannigfachen Schicksalen ein Besitz des Hauses Wahnfried, ist nicht nur ein Heiligtum der Nation, sondern der Welt; diese vielleicht tiefste und persönlichste Schöpfung Wagners in der Urschrift zu veröffentlichen, darf ein Verlag wohl als eine buchen. - Von Beethoven wird die zweisätzige Klaviersonate in Fis-Dur Op. 78 vorgelegt (Autograph im Musikhistorischen Museum von Wilhelm Heyer in Köln a. Rh.); 1809 geschrieben, aus dieser mittleren Zeit vielleicht das schönste und reinliche Manuskript Beethovens. - An Schönheit kann es freilich nicht mit der Reinschrift der H-Moll-Sinfonie von Franz Schubert messen: der Liebhaber wird in den wenigen Takten des Scherzos dieser „Un endeten“, die das Autograph enthält, besonderes Interesse nehmen; hier glaubten wir neben der Partitur auch die erhaltenen Skizzen veröffentlichen zu müssen, die außer dem größten Teil des ersten Satzes@ (die drei Anfangsseiten sehlen) und dem vollständigen zweiten Satz auch das fast vollständige Scherzo samt dem Trio enthalten, und außer in dem Revisionsbericht der Gesamtausgabe von Schubert Werken nirgends noch zugänglich sind. - Johannes Brahms erscheinen, mit Erlaubnis des Verlages N. Simrock, die „Vier ernsten Gesänge Op. 121, Brahms letztes Werk, das größte Dokument des Pessimismus, das in der Musik existiert; Handschrift, zugleich Konzept und endgültige Niederschrift, von entsprechend monumentalem Duktus. Und als vielleicht größte Kostbarkeit für den Sa ler bringen wir das intimste Werk der Musikliteratur, die Urschrift von Wagners „Siegfried-Id ein Manuskript, das ebenso wie der „Tristan“ bisher im Archiv von Wahnfried vor den Augen der verborgen geruht hat. Es ist die zierlichste Niederschrift, die es von dem Kalligraphen Wagner überhaupt gibt, und die Fassung des Titels und die Aufzeichnung dieses sinfonischen Geburtstagsgrußes der „Symphonie“ wird auch dem Kenner Wagner Schöpfungen eine Überraschung bringen.“