Original

18. Januar 1924

Die Königstochter aus dem Märchen, die nicht lachen konnte, war unerlöst in den Himmel gekommen Immer noch konnte sie nicht lachen. Sie hatte es sogar einem Seraph sehr übel genommen, als dieser sie mit der Spitze seines Flügels im Nacken gekitzelt hatte, um sie zum Lachen zu bringen.

Am vorigen Mittwoch abend saß ihr Vater, der alte König, mit Gott Vater und einigen andern besseren Herren beim Dämmerschoppen. Sie spielten Stippy bis gegen sieben und hielten dann ein Plauderstündchen.

„Es ist ein Jammer,“ sagte der alte König, „daß ich mein Mädel nicht zum lachen bringe. Alle Mittel habe ich angewandt, alle Spezialisten gefragt, sogar „Die Luxemburger Frau“ habe ich ihr zu lesen gegeben. Meint Ihr, sie hätte auch nur eine Lippe verzogen!“

„Dann muß es allerdings schlimm um sie stehen,“ sagte Gott Vater. „Da werde ich selbst eingreifen müssen.“

„Sie würden mir einen großen Gefallen tun,“ sagte der König.

Gott Vater tat einen Blick zu einem Himmelsfenster hinaus auf die Erde, pfiff leise durch die Zähne und die Gänsefüßchen an seinen Augenwinkeln zogen sich in einem kaum merklichen Lächeln zusammen. „Werden wir gleich haben,“ sagte er vor sich hin.

Und so kam es, daß die Luxemburger Menschheit am Mittwoch abend gegen acht Uhr beim Heraustreten aus den Haustüren die Welt als glacierte Marone antraf. Nur daß man nicht hineinbeißen konnte, ob es gleich nicht selten so aussah, als ob einer plötzlich hineinbeißen wollte.

Lieber Leser, in einem Zehntel der Zeit, die Du brauchst, um diese Zeile zu lesen, lagst Du am Mittwoch abend auf dem Rücken - oder was damit zusammenhängt. Alle Leute waren einig in der Feststellung, daß sie in ihrem ganzen Leben Derartiges noch nie gesehen hatten.

Im Himmel stand die Bevölkerung in Gruppen zusammen, besah sich das Schauspiel von oben und lachte sich einen Ast.

Wir hier unten hatten die Schweinerei. Es wurde immer schlimmer. Wer um acht Uhr seiner Frau telephoniert hatte, er käme wegen der Gefahr des Ausgleitens nicht zu Nacht essen, mußte um Mitternacht auf allen Vieren nachhaus kriechen, wenn er nicht Hals und Bein brechen wollte. Wer da sagt, er sei nicht im Durchschnitt dreimal pro Kilometer lang hingeschlagen - einmal pro 333 1/3 Meter -, ist ein gemeiner Lügner. Erst die Statistik der gebrochenen Beine, Arme und Zwicker wird den Umfang der Katastrophe in eine einigermaßen zuverlässige Beleuchtung rücken.

Eduard erklärte uns grade wissenschaftlich das Prinzip des Schwerpunkts - den Schluß in liegender Stellung -, als Peter auf Beinlänge und in Augenhöhe vor sich ein Zwillingsfußpaar aufblitzen sah. Daß es seine eigenen Füße waren, wurde ihm mit einem dumpfen Aufschlag klar, als er merkte, daß ein anderes, mehr nach der Mitte seines Körpers eingebautes Zwillingspaar die Stelle der abwesenden Füße einnahm. An allen Trottoirrändern standen Damen, wie vor Abgründen, und flehten den ersten Mann, der sich näherte, um Beistand an. Der Erdboden war, als zuckte darunter eine Muskulatur, die aus jadem Fleckchen, auf das Dein Fuß trat, einen Höcker machte, der Dich heimtückisch abzuwälzen suchte. Machtlos fühltest Du Dich jener geheimnisvollen Anziehungskraft ausgeliefert, die nach einem alten Glauben im Mittelpunkt der Erde wohnen soll. Sie zog Dich rettungslos jede irgendwie geneigte Fläche hinunter. Hölderlin ahnte nicht, daß er den Abend des 16. Januar 1924 besang, als er die Verse dichtete, die E. R. Curtius gestern hier von ihm zitierte:

„Es ziehet wider Willen ihn, vonKlippe zu Klippe, den Steuerlosen,Das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu.“

Ich sah ein Pärchen. Er war offenbar im Begriff Sie von einem Tanzkränzchen nachhaus zu führen. Ihr Vorwärtskommen bestand aus Hinfallen und Aufstehen, Hinfallen und Aufstehen. „Halte dich nur fest an mich,“ sagte er mutig und zärtlich, während ihm schon beide Beine wieder in der Luft hermflogen, und sie mit einem leisen Aufschrei an seine Seite darniedersank. Für diese beiden war es totsicher einer ihrer schönsten Abende. Ich weiß nicht wann sie nachhaus kamen. Vielleicht sind sie überhaupt noch nicht zuhaus.

Die Königstochter, die in den Himmel gekommen war, ohne jemals gelacht zu haben, hat sich am Mittwoch abend gekugelt, während sie den Menschen zusah, die herumtorkelten wie Hemdenmatze von zwölf Monaten, die erst das Gehen lernen.

Als sie zum Schluß das verliebte Pärchen sah, von dem eben die Rede war, da lachte sie nicht mehr. Sie versank in Träume und dachte an den hübschen jungen Mann, der ihr vormittags auf der Milchstraße begegnet war und sie mit so merkwürdigen Blicken angeschaut hatte.

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