Jeder weiß, was man gemeinhin unter Landflucht versteht: Die Flucht vor dem Land.
Es gibt noch eine andere Landflucht, deren Symptome auch um Luxemburg vielfach zu beobachten sind und die in gewisser Beziehung schlimmer ist, als die erste: Das ist die Flucht aufs Land.
Ich meine nicht den alljährlichen Run der Sommerfrischler auf idyllische Dorfruhe und Dickmilch. Sondern ein Phänomen, das langsam, aber sicher, das Land zu verschlingen droht: die Industrialisierung
Ein Bekannter, der dieser Tage in Lintgen zu tun hatte, schreibt mir über seine Beobachtungen: „Auch ein Zeichen der Zeit! - Die altbekannten ländlichen Patrizierhäuser, die rechts und links der Landstraße in vornehmer Abgesondertheit lagen, sind von Fabrikanten, Industriebesitzern, Industrievertretern, aktiven Kombattanten im Kampf um den Dollar angekauft und auffrisiert. Ein Kapitel aus „Soll und Haben“ von Gustav Freytag.
Im Wiesenflur, wo sonst Butterblumen, Löwenzahn, Wiesenschaumkraut, Bärenklau, Margeriten, Herbstzeitlose reihum den grünen Teppich bestirnten und bemalten, wo nur die Sense des Mähers, das Muh der weidenden Kühe und der Gesang der Hüterbuben klangen, da geht jetzt stoßweise das Pusten der Maschinen. Die Kohlensäurefabrik Céodeux gibt dem Tal ein neues Gepräge von rastloser Betriebsamkeit, sie versorgt das ganze Land mit ihren Produkten, arbeitet mit Tag- und Nachtschicht. Gegenüber ist eine Sandgießerei erstanden, die an die dreißig Arbeiter beschäftigt, eine Orgelfabrik ist fertig, eine Emailfabrik geplant. Wie lange wird es noch dauern, bis das ehemals so friedliche Bauerndorf als Industriezentrum ein Vorort von Großluxemburg sein wird?“ fragt mein Korrespondent. Ach ja, was würden die Augen machen, die vor einem Menschenalter die Kunden des deftigen Gasthauses Dondelinger waren, die dort am Vorabend des Lintger Pferdemarktes ihre Stiefel um den flammenden Herd stellten zum trocknen? Was würden sie sagen, wenn sie hörten, daß ein Haus, das damals vielleicht 4000-5000 Franken wert war, das vor etwa zwanzig Jahren für 7000 Franken verkauft wurde, letzter Tage für 41 000 Franken versteigert wurde! Allerdings, sie wären darüber nicht verblüffter, als über die Tatsache, daß der Franc grade noch vier Sous wert ist.
So gießt die Stadt ihre Betriebsamkeit rund um sich aus, daß sie die Schienenstränge entlang rinnt und Tümpel bildet, wo sich der Boden dazu eignet. Man darf schon mit der Zeit rechnen, wo der Ausdehnung nach Norden eine Ausdehnung nach Süden die Wage halten wird. Dann wird Großluxemburg von Mersch über Lintgen-Luxemburg-Gasperich-Leudelingen-Steinbrücken bis nach Esch reichen, fünfunddreißig Kilometer welt. Und das Häuschen in Lintgen wird eine Viertelmillion wert sein. Und der Besitzer wird sich dafür schwerlich mehr kaufen können, als der heutige mit 40 000 und der frühere mit 5000. Es wachsen keine Bäume in den Himmel.