Man las die letzten Tage wiederholt in den Blättern von pedantischen Strafpredigten, die amerikanische Delegierte in diesem oder jenem Ausschuß über das Reparationsproblem, die Ruhrbesetzung oder sonstige vorwiegend europäische Fragen zu halten sich herausnahmen. Die quäkerhafte Selbstgerechtigkeit und Überhebung, die daraus sprachen, sind zweifellos ein Erzeugnis der Nüchternheit, die die Vereinigten Staaten zu einer Angelegenheit der Gesetzgebung gemacht haben. Wer seit Jahr und Tag sein Verlangen nach Alkohol bekämpft und besiegt hat - sagt er -, kommt natürlich in Versuchung, sich für etwas Besseres zu halten und den andern Moral zu predigen. Hier drüben hat man für dergleichen indes wenig Verständnis und ist versucht, mit jenem biedern Münchener zu fragen: Ist das der Dank dafür, daß wir Euch entdeckt haben! Wir sind in Europa wirklich schlecht darauf vorbereitet, uns in die Rolle des Schuljungen zu finden, dem der Herr Lehrer aus Amerika mit gerecktem Zeigefinger droht: Parieren oder es gibt eine schlechte Zensur! Amerika hat in den Krieg eingegriffen, weil es bei der großen Abrechnung nicht unbeteiligt abseits stehen wollte; es fand grade noch Zeit, im letzten Akt das Heldenquartett mitzusingen, und nun scheint es sich ans Dirigentenpult drängen zu wollen, weil es den schönsten und unversehrtesten Frack anhat. Onkel Sam hat in jüngster Zeit wirklich Glück gehabt. Der große europäische Zwist hat seinen Dollar auf die höchste Sprosse der Kursleiter gehoben und hat ihm Gelegenheit verschafft, mit einer Heldengeste seine alte Schuld an Lafayette abzutragen. Als im Hintergrund die Gefahr lauerte, daß der Japs mit seinen unverbrauchten Kräften über kurz oder lang eine Abrechnung mit dem Yankee suchen würde, ließ sich der liebe Herrgott als Bundesgenosse in Washington einschreiben und arrangierte ein paar Erdbeben, die vorderhand den Japanern die eventuelle Kriegslust vertreiben mußten.
So geht es den Amerikanern heute unberufen am besten von allen Nationen der Erde. Dürften sie hie und da ihr Gläschen trinken, so wären sie gemütlich, wie alle Welt. So aber hat die gezwungene Enthaltsamkeit aus ihnen unausstehliche Moralprediger gemacht. Wer aus eigenem Antrieb dem Teufel Alkohol, seiner Pracht und seinen Werken entsagt, braucht sich damit noch nicht den Charakter zu verderben. Aber wer dazu gezwungen wird, kehrt nachher den Unwillen über die auferlegte Entbehrung gegen die Menschheit im allgemeinen, macht aus der Not des Verzichts eine Tugend, an der außer ihm niemand anders Gesallen findet. Daß sie jetzt dem alten Europa, im dem ihnen vom November 1918 ab der Cognac, Burgunder, Rheinwein und Champagner so gut geschmeckt und die Mädchen so gut gefallen haben - daß sie uns jetzt mit ihrem Kanadier-Eigendünkel - wir Wilde sind doch bessre Menschen! - auf die Nerven fallen, liegt letzten Endes nur daran, daß sie, als sie nach dem europäischen Taumel heimkamen, das Land durch die Greise und Weiber, die daheim geblieben waren, trocken gelegt fanden.
Sie werden erfahren, daß das auf die Dauer nicht geht. Wenn sie sich Wein und Bier versagen, fangen sie eines schönen Tages wie die Wilden wieder von vorne an und machen sich Gott weiß woraus ein gegorenes Getränk zurecht. Die Menschheit braucht entweder den Alkohol oder den Fanatismus. Der Fanatismus ist ein Dauerzustand, an dem sie zugrunde geht, wie an jedem Wahnsinn, Alkohol ist ein Stimulans auf Zeit. Ein vorzüglicher Sklave, aber ein gefährlicher Herr. Es setzt schon einen bestimmten Grad von Kultur voraus, daß man diesen Sklaven nicht über sich Herr werden läßt. Die Amerikaner trauen sich anscheinend diese Kultur noch nicht zu, darum schaffen sie lieber den Sklaven ganz ab. Wir haben leider die Folgen zu tragen. Aber wenn einmal der kühle Fanatismus, den sie an Stelle des Alkohols setzen, umzustehen und sauer zu vergraulen beginnt, dann finden sie vielleicht den Weg der goldnen Mittelstraße zurück, an der Europa Jahrtausend gebaut hat.