Tagebuchblatt: 5. Februar 1924: Gestern abend im Bühnensaal der „Arbed“, intime Aufführung, zum ersten Mal Yvette Guilbert gehört.
So also wird Geschichte geschrieben.
Das große Publikum weiß von Yvette Guilbert ein Plakat, ein Feuilleton. Sie steht als magere, blasse Großstadtpflanze, die dünnen Arme bis über die Ellenbogen in schwarzen Handschuhen, an der Rampe, deren freches Licht ihre Stülpnase noch stärker hinaufdrückt. Sie singt bewegungslos, mit durchdringender Stimme, Unflätigkeiten und macht dazu die Unschuldsmiene einer Gänseliesel an ihrem Kommuntonstag. Später heiratet sie einen deutschen Oberlehrer namens Schiller und singt dazu alte französische Volkslieder.
So ungefähr sieht das Schema Yvette Guilbert aus.
Die Wirklichkeit ist anders.
Yvette Guilbert ist nicht mehr so jung, wie vor dreißig Jahren. Sie ist jünger. Sie ist auch nicht mehr schlank, sie singt nicht mehr bewegungslos naive Unflätigkeiten. Sie ist mehr und sie ist unendlich viel Besseres, als selbst viele ihrer bisherigen Bewunderer glauben mögen. Sie ist eine kluge alte Frau, die so sehr viel jünger ist, als viele jüngeren, weil sie die große Kunst kann, mit Würde und Humor zu altern und ganz nahe bei der Urnatur zu bleiben. Sie steht kaum auf der Bühne, so weiß man: Die ist ganz Temperament, die ist als Künstlerin gewachsen. Hier steh ich, ich kann nicht anders, - ja, warum nicht auch: So helfe mir Gott! Wenn Gott einem Mönch hilft, der seine alte Kirche über den Haufen predigen will, kann er auch einer Frau helfen, die ein neues Evangelium des Brettls verkündet. Denn ihm sind wir Menschlein alle gleich groß und gleich klein.
Indem diese merkwürdige Frau mit dem ganzen Mut zum Leben und zu sich selbst sich auslebte, wurde sie, was sie war und was sie heute ist. Man hat sie mit Sarah Bernhardt in Vergleich gestellt. Sie ist wertvoller, weil mehr Menschtum und Urfrauentum in ihr übrig geblieben ist, das von der Geste nicht aufgezehrt wurde. Und dabei ist sie ganz Lust am Fabulieren, am Singen und Sagen und Agieren. Es gab vor Jahren eine alte Schauspielerin in Berlin, sie hieß Frieb-Blumauer - die war, vom Temperament abgesehen, vielleicht eines Wesens mit Yvette Guilbert. Es haben nach ihr noch nicht viel bessere auf der deutschen Bühne gestanden.
In dem, was wir gestern sahen, war dramatischschöpferische Kraft und bildhafte Schönheit. Die alten Volkslieder wurden mit feinem Empfinden für das Wirksame darin galvanisiert, wo der Balladenion angebracht schien, traf ihn die Künstlerin mit sicherem Instinkt, wo stärkere Belebung durch Mimik und Gebärden und bedeutsames Unterstreichen oder gar Ausarbeiten einzelner Situationen zu künstlerischer Wirkung verhelfen konnten, war auch in dieser Richtung Stärkstes geleistet. Und immer war das Ganze wie eine Ausstrahlung der eigenartigen Erscheinung, des weiblichen Vollmenschen, den die Künstlerin auf der Bühne aus sich zu machen weiß. Nie vergißt man den Gang, das Wiegen in den Hüften, - sie ging, wie jemand geht, der seiner sicher ist in jeder Stimmung, im Takt des Schreitens hin und her mit den Fingern knallt und das Spiel seiner Glieder als Genuß empfindet. So wenn sie im Malborough mit dem Taschentuch winkt, in den Cloches de Nantes läutend die Arme schwingt und dazu jubelt, weil des Kerkermeisters Töchterlein den Gefangenen hat entspringen lassen, im Lien serré mit köstlicher Näh-Mimik dem Lied einen plastischen Hintergrund schafft, in «Marjoton allant au raisin» sich mit rabelaisianischer Ausgelassenheit auf den Leib schlägt usw. usw. Und reden muß man sie gehört haben. Kinder, Ihr und ich und ich und Ihr, wie uns der Schnabel gewachsen ist, keine Hemmung, kein Bedenken, kein Katheder. Ach, und dieser Liederschatz, den eigentlich sie erst wieder zum Leben erweckt hat! Die Hefte, in denen sie gesammelt sind, sollten in keinem Hause fehlen, wo auch nur eine Zupfgeige oder eine Mundharmonika vorhanden ist. Immer denkt man an das Wort, daß der die Süße des Lebens nicht gekannt, der nicht im vorrevolutionären Frankreich gelebt hat.
Die Lieder und Tänze der jungen Mädchen, die Yvette Guilbert in ihrer Schule erzieht, waren ein Kapitel für sich.