Original

7. Februar 1924

Je mehr in einer Versammlung Leute gleichzeitig reden, je lauter, länger und aufgeregter sie es tun, desto weniger Aussicht besteht, daß die Wahrheit durchdringt.

Diese Chance wird noch erheblich vermindert, wenn diese selben Leute nicht die Wahrheit, sondern das Gegenteil davon sagen.

Die Wahrheit ist eine, die Lüge aber ist mannigfaltig.

Die um jeden Redner herumsitzen, hören ihn, andere hören andere. Was daraus wird, ist nicht die Wahrheit.

Wer heute viele Zeitungen liest, erlebt dasselbe, wie ein Zuhörer in einer Versammlung, in der einer den andern überschreien will.

Wir bildeten und bilden uns ein, die Presse in ihrer heutigen Entwicklung und Ausbreitung sei das beste Mittel, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Und mitleidig blickten wir lange auf die wackeren alten Chronisten hinunter.

Ich glaube, ich werde mich wieder zu Jehan Froissart und seinen Kollegen bekehren.

Ursprünglich waren die Zeitungen wirklich nur da um das, was der Tag an Wahrheit produzierte, an den Mann zu bringen.

Später überbot einer den andern und der andere wieder den einen.

Die Wahrheit aber ist eine, und die Lüge ist mannigfaltig. Sie mußte als Füllsel dienen. Und entstanden papierne Lügenlawinen, die zumal in Amerika große Verheerungen anrichten.

Der „New York Herald“ zum Beispiel läßt täglich Papiermassen niedersausen, mit denen man ein Haus tapezieren könnte.

Soviel Wahrheit gibt es gar nicht, daß man damit jeden Tag solche Flächen bedrucken könnte.

Aber bedruckt müssen sie werden um jeden Preis. Darum muß eben die Lüge herhalten.

So zum Beispiel steht in der Pariser Ausgabe des „New York Herald“ vom Samstag, 26. Januar 19

„Als die Truppen der Alliierten Ende 1918 in Luxemburg einzogen, wurden alle Porträts der jungen Heldin (Großherzogin Marie Adelheid) aufgekauft - so groß war die Bewunderung, die ein stolzer Trotz gegenüber dem Kaiser den Alliierten eingeflößt hatte. Es ist traurig, sagen zu müssen, daß ihre eigenen Untertanen durch die deutsche Propaganda während der Besetzung derart beeinflußt worden waren, daß deutsche Agenten eine Revolution veranlaßten und die Republik ausriefen.“

So wird von anonymen Unkrautsäern unsere Geschichte geschrieben.

Herr Emil Mark ist noch nicht Vater, kann es aber noch werden. Denn schon Wilhelm Busch sagt, daß dies nicht schwer ist. Wie wird dann aber Herr Mark vor seinen eventuellen Kindeskindern da stehen, wenn der am 10. Januar 1919 in der Kammer gewissermaßen als Starter der Umwälzung fungierte, ein deutscher Umsturzagent in die Geschichte eingek wird, er, der besten Luxemburger einer, er, den die Deutschen wegen seiner werktätigen Franzosenliebe im Krieg heimtückisch am Hammelbein kriegen wollten und den sie am liebsten an die nächste Mauer gestellt und vor den Kopf geschossen hätten!

Sie meinen, luxemburgische Geschichtsschreiber den sich nicht in der amerikanischen Presse dokumentieren?

Aber diese Art von Brunnenvergiftung beschränkt sich nicht auf die amerikanische Presse.

Und wer sagt Ihnen, daß die Gewährsmänner dieser ausländischen Presse nicht einmal selbst die luxemburgische Geschichte schreiben oder diktieren werden?

TAGS
  • Presse
KatalognummerBW-AK-012-2577