Original

10. Februar 1924

Das Wort Piccolo ist italienisch und heißt klein. Die Deutschen übersetzen es indes einerseits mit Flöte, andererseits mit Stift.

Als Flöte gehört es ins Reich der Töne, als Stift in den Hotelbetrieb.

Die Piccoloflöte schwebt über allen andern Instrumenten, der Stift schwebt unter allen andern Kellnern. Die Piccoloflöte wird nach Noten geblasen, der Stift nicht selten nach Noten verhauen.

Er ist sozusagen eine Art Spucknapf für das Rangbewußtsein und die Mißgelauntheit der andern Kellner. Ist einer von ihnen mit dem Trinkgeld oder der Ablösung nicht zufrieden, schmerzen ihn die Hühneraugen, hat ihm der Herr Direktor einen Schweinhund geblasen, ist ihm das Malör passiert, daß er bei der Table d’hôte der Frau des Gesandten oder des General-Direktors die Sauce in den Nacken und übers Kleid gegossen hat, so ist dem Stift nur ja dringend zu raten, daß er ihm nicht über den Weg läuft. Denn so ist bekanntlich der Mensch, daß er für sein Ungemach am liebsten einen schwächeren verantwortlich macht und sich dafür an diesem unschuldigen Sündenbock rächt.

Freilich findet sich manchmal ein älterer Kollege, der es mit dem Stift gut meint und an ihm Vater- stelle vertritt. Aber auch Väter haben die Ohrfeigen oft sehr lose sitzen. Indes Strenge am rechten Ort ist das beste, was dem Stift aus solchem Verhältnis blühen kann.

Die Erziehung des Stifts ist im allgemeinen die adäquateste, die in Hinsicht auf seinen späteren Platz im Kampf ums Dasein für ihn erfunden werden konnte. „Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir,“ sagt ein weiser Spruch. Beim Stift heißt er: Nicht in der Schule, sondern im Leben lernt er. Er lebt zwischen beständigen Hindernissen und Ecken und Kanten, in jeder Sekunde kann er irgendwo widerrennen. Dabei schleift er sich so glatt, wie eine Billardkugel. Sein Fachwissen wird ihm nicht eingetrichtert, er muß es den andern mit List und Tücke abgucken, es sich stückweise allmählich zu eigen machen, sich damit durchdringen bis in die Fingerspitzen, ein Rädchen werden im großen Getriebe. Er kriegt dabei mehr Maulschellen und Kopfnüsse, als gute Worte, darum lernt er, im Leben den Kopfnüssen und Maulschellen aus dem Wege gehen und mehr auf positive Werte halten, als auf gute Worte.

Nichts Menschliches bleibt ihm fremd. Keiner, der mit zwölf Jahren ins feindliche Leben hinaus muß, steht an so bevorzugter Stelle, um Menschenkenntnis zu erwerben. Der Stift atmet sie ein, wie er die Luft einatmet. Denn nirgends geben so viele Menschen zusammen ihr Inneres so ungeniert preis, wie im Hotel, wo sie beim Essen, Schlafen, in allem Körperlichen die wenigste Rücksicht nehmen, wo sie in geschäftlichen Zusammenkünften ihre Dummheit oder Gescheitheit hüllenlos offenbaren, dem Personal gegenüber ihren Adam in seiner ganzen ursprünglichen Liebenswürdigkeit oder Kratzbürstigkeit zu Wort kommen lassen. So wird der Stift von Anbeginn auf Menschen gedrillt, die sich seelisch vor ihm ausziehen. Statt Kellner, Ober, Hotelbesitzer könnte er ebensogut Detektiv werden. Er sähe jedem am Mantelkragen und am Handköfferchen ab, wie er einzuschätzen ist.

Ihr alle, die Ihr Euern Ulk mit dem Stift treibt, bedenkt, daß er Euch aus Selbsterhaltungstrieb durchschauen muß und Euch vielleicht in Gedanken viel stärker verulkt, als Ihr ihn.

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