Original

12. Februar 1924

In den Zeitungen stand, der Konservator unseres Naturhistorischen Museums, Herr Victor Ferrant, habe die Altersgrenze erreicht und sei mit dem Titel Ehrenkonservator in den Ruhestand getreten.

Wir warteten alle auf ein Dementi, denn wir hielten die Meldung für einen Witz, zum mindesten einen Irrtum.

Altersgrenze? Das ist eine menschenfreundliche Einrichtung für Beamte, damit sie nicht bis an ihr Lebensende in der Tretmühle gehen müssen, damit sie aus ihrem Menschendasein nicht ewig an jedem Wochentag die Stunden von acht bis zwölf und von zwei bis sechs herausschneiden und auf den Altar des Vaterlandes legen müssen, damit sie nicht bis an ihr Lebensende arbeiten müssen, sondern die letzten Jahre nur zu leben brauchen, um zu leben. Für diese markiert die Altersgrenze die Schwelle zu einem neuen Dasein, das, wenn alles Übrige klappt, sorgenlos und zufrieden sein soll, bis an ein seliges Ende.

Bei Victor Ferrant verhält es sich anders. Sein Beruf und sein Leben decken sich ganz, sind eins und dasselbe. Er ist eigens auf die Welt gekommen, um das zu werden, was er geworden ist. Der Beweis dafür ist, daß sie sein Amt extra für ihn geschaffen haben. Er hatte nicht seinen Beruf, sondern der Beruf hatte ihn entdeckt. Andere beginnen auf Tertia oder Sekunda sich über ihre Berufswahl die Köpfe zu zerbrechen. Soll ich Arzt, Advokat, Professor, Ingenieur, Apotheker, Zahn- oder Tierarzt, Offizier oder Geistlicher werden? Welcher Beruf ist am meisten überfüllt, welcher bietet die meiste Aussicht auf Lücken um die Zeit, wo ich mein Schlußexamen mache, welcher wird zurzeit von den begüterten und heiratsfähigen Töchtern des Landes bevorzugt, in welchem kann man mit - in welchem möglichst ohne Arbeit am meisten verdienen? Dergestalt sind die Fragen, die sich der Jüngling vor der Berufswahl stellt.

Um dieselbe Zeit saß Viktor Ferrant auf seiner Mühle im Mamertal wie er schon als Kind gesessen hatte, und seine Welt waren Käfer, Würmer, Insekten und Vögel, alles lebendige Kleine, was um ihn kroch und flog, pfiff und zirpte oder mit den Flügeln summte. Er wuchs in diese reiche, bunte, mannigfaltige. Welt hinein, und wo wir einen Käfer, einen Wurm, eine Mücke, eine Kohlmeise oder eine Kaulquappe sehen, da sah er Beziehungen und Zweckmäßigkeiten, Wunder und Herrlichkeiten, die aufs Höchste deuteten, bei denen seine Seele froh und klar blieb, im Summen eines Käferflügels hörte er Musik des Weltalls, das Erkennen der Gesetzmäßigkeiten, die sich ihm in all diesem Lebendigen offenbarten, wurde der Inhalt seines Lebens, wurde sein Beruf, weil es ihn mit tausend Stimmen dazu rief. Und das Wasser floß und strudelte und träumte und schoß zwischen Wiese und Wald seinen Weg des ewigen Kreislaufs, die Wolken fuhren weiß und grau und golden über die einsame Mühle, die Blumen im Mühlengarten blühten und welkten, die Jahre gingen, - der Ferrangs Vic saß in seiner kleinen großen Welt und lächelte den Wundern der Schöpfung, daß er Grübchen in die Wangen bekam. Das Leben trug ihn an den Platz, der für ihn geschaffen war, denn das Leben hat manchmal ein Einsehen. Er hat sich nicht bis zu seinem Amt hinaufgesessen, er wurde der Konservator des Naturhistorischen Museums, weil er selbst das Naturhistorische Museum war. Von dem kleinen Raum in der alten Vaubankaserne im Pfaffental, wo er über seinen Präparaten und Notizen zu sitzen pflegt, spannen sich Fäden nach den höchsten Stätten der Wissenschaft im europäischen und überseeischen Ausland, der Name Victor Ferrant hat seinen Kurs im Betrieb der Weltwissenschaft.

In der Regel lauert hinter jedem Beamten, der über die Altersgrenze tritt, eine Reihe von Unterkollegen, die nun aufrücken. Wer wartet darauf, daß der Platz Victor Ferrants frei wird? Hat er einen Nachfolger? Wenn nicht, so ist es klar, daß das Wort Altersgrenze in diesem Fall nur ein Wort ist, nur ein Wort sein darf.

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    Katalognummer BW-AK-012-2581