Original

23. Februar 1924

Der Parlamentarismus, sagen sie immer lauter, sei überlebt, ausgeartet, gehe an Wasserschößlingen zugrund, und man müsse notgedrungen etwas anderes erfinden.

Man braucht indes nicht jeden Kranken gleich sterben zu lassen. Und es wäre verfehlt, in diesem Fall die Kinder mit dem Bad auszuschütten.

Soll jemand sagen, was er will, so darf man ihm das Neden nicht verbieten und ihm den Mund nicht zubinden. Redet er zu lang, zu viel und zu dumm, so müssen eben Mittel gefunden werden, die Flut einzudämmen.

Wer ein Übel beseitigen will, muß dessen Ursache aus der Welt schaffen.

Die Ursache der Ausartung des Parlamentarismus heißt hier und überall Demagogie. Warum treibt der Parlamentarier Demagogie, warum redet er endlos zum Fenster hinaus und warum sagt jeder, was siebenunddreißig andere vor ihm schon gesagt haben?

Um wiedergewählt zu werden.

Hier bekommt die Sache einen rührenden Einschlag. Warum will der Parlamentarier wiedergewählt werden? Nehme jeder aus seinem Bekanntenkreis die ihm vertrauten Fälle unter die Lupe: So stellt sich heraus, daß die öffentliche Meinung den meisten Volksvertretern unrecht tut. Nein, die meisten sind auf eine Wiederwahl erpicht nicht aus persönlichem Interesse, nicht aus Ehrgeiz - das erste Mal mag sie der Ehrgeiz, der Drang aufs Ganze getrieben haben, aber nach der ersten Legislaturperiode, wenn einer so weit ist, daß er nur durch die abgelegensten Gäßchen schleicht, aus Angst, einem Wähler zu begegnen, der ein Anliegen an die Kammer hat, dann sagt er sich in stillen Stunden, was er für ein Mondkalb war, sich damals zu einer Kandidatur breitschlagen zu lassen. Und dann kommt das Rührende. Dann entdeckt er ganz unten die Pflicht gegen das Ganze - das, was sie in seiner Partei das Ganze nennen - die Pflicht gegen die Idee und das Ideal. Dann ist er wieder fest entschlossen, zu bleiben, um jeden Preis zu bleiben, damit die gute Sache keinen Streiter verliert. Mag das Ideal blau, rot oder schwarz gefärbt sein oder in irgend einer Zwischenfarbe schimmern, der Parteimann bleibt bei der Stange, und er treibt Demagogie, um seiner Sache, „der“ Sache zum Sieg zu verhelfen. Er sieht auf einmal trotz der Bäume wieder den Wald.

Die Bäume selbst freilich sehen den Wald nicht, ihnen ist der Wald Hekuba. Und es besteht der begründete Verdacht, daß der Parlamentarier, der sich für Einzelinteressen einsetzt, sehr oft den Gestank für den Dank hat. Er redet aufs Volk ein und sagt zu jedem Einzelnen: Ich bin dein bester Freund, siehe, Gendarm, Briefträger, Professor, Straßenwärter, Eisenbahner, siehe Städter, siehe Bauer, Produzent und Konsument, wie ich für dich ins Zeug gehe! Und der Gendarm, der Briefträger, der Straßenwärter, sie alle denken nach sechs Jahren: Lieber Mann, du hast dir redlich Mühe gegeben, du mußt müde sein und wählen wir dich wieder, so wirst du wahrscheinlich auf deinen Lorbeeren ausruhen wollen. Wir wählen darum lieber einen Neuen, eine unverbrauchte Kraft.

Und am Abend des Wahltags denkt der Durchgefallene über der Welt Undank nach und tröstet sich mit dem Gedanken, daß sie ihm jetzt alle den Buckel hinaufsteigen können.

Alles dies, die ganze Demagogie mit ihren übeln Folgen, wäre durch einen Federstrich zu beseitigen:

„Kein Abgeordneter ist nach Ablauf seines Mandats wieder wählbar.“

Höchstens könnte bestimmt werden, daß einer erst nach drei oder vier Legislaturperioden aufs neue kandidieren dürfte. Auf so lange Frist stellt niemand Wahlwechsel aus. Das hätte außerdem den Vorteil, daß einer im Alter die Dummheiten aus seiner Jugend öffentlich widerrufen könnte.

Da die Abgeordneten nicht, wie Weinflaschen, immer wieder gebraucht werden könnten, und wir schon jetzt nicht an einem Übersluß geeigneter Kandidaten leiden, ergäbe sich von selbst die Notwendigkeit, die Zahl der Volksvertreter einzuschränken.

Überdies müßten die Fraktionen dieselbe Arbeitsmethode einführen, wie die Kammer als Ganzes. Diese bearbeitet jede Vorlage in den Abteilungen, die Vertreter der Abteilungen tragen die Auffassung aller Kollegen in der Zentralsektion zusammen und ein gewählter Berichterstatter vertritt die Quintessenz der Auffassung der Kammer vor dem Plenum. Warum sollte nicht jede Fraktion jedesmal ihren gewählten Berichterstatter haben, der die Meinungen seiner Parteigenossen vor dem Plenum zu vertreten hätte? Er könnte ja jeweilig angeben, von wem die betreffende gute oder schlechte Idee stammt, sodaß kein Verdienst unter den Scheffel gestellt würde.

Aber natürlich ist es wieder zu einfach!

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    Katalognummer BW-AK-012-2591