Original

29. Februar 1924

Sehr geehrter Herr Redakteur!

Eben komme ich von meinem Vormittagsspaziergang. Es war eine Hundekälte - so genannt, weil man bei solchem Wetter keinen Hund vor die Türe jagt. Nordwind und anhebendes Schneegestöber. Ich wäre am liebsten auch zuhaus geblieben, aber das ewige Sitzen - Sie wissen ja.

Da begegnet mir ein Pistonbläser von der Militärmusik. Er bleibt stehen und sagt: „Guten Tag, Herr Grimberger, gelt, Sie wundern sich, daß ich hier herumstrolche statt auf dem Paradeplatz Konzert zu blasen.“

Es war Donnerstag, dreiviertel zwölf, und eigentlich hätte der Mann also auf dem Kiosk des Paradeplatzes stehen und den Kaiser-Walzer von Johannes Strauß blasen müssen.

Er hauchte in die roten Hände und fuhr fort:

„Wir konnten nicht blasen, weil uns die Ventile eingefroren waren.“

„Recht so!“ sagte ich. „Ihnen sollten zwischen Allerheiligen und Ostern an jedem Sonntag oder doch an jedem Dienstag und Donnerstag die Ventile einfrieren!“

Denn sagen Sie selbst, Herr Redakteur, was haben diese öffentlichen Winterkonzerte für einen Zweck?

Wenn es sich um eine alte Überlieferung handelte, wie zum Beispiel die Echternacher Springprozession, ließe es sich begreifen, daß man aus Pietät daran festhielte.

Aber für die paar Studentlein, deren Mütter sich überdies ärgern, weil sie zu spät zum Mittagessen kommen, und für die sechs Aperitivisten, die von dem Konzert überhaupt nichts hören, lohnt es sich wirklich nicht, die Militärkapelle mitten in der Unbill des Winters mobil zu machen. Handelte es sich um eine Parole-Ausgabe, wie am Berliner Zeughaus, so wäre das Schnedderengdeng und Bumdada unter freiem Himmel bei Schneegestöber und drei Grad unter Null militärisch zu rechtfertigen, aber unser Paradeplatz ist schon lange - Gott sei Dank - ein lucus a non lucendo.

Könnten wir unsere schöne Militärkapelle zur Winterzeit nicht zweckmäßiger und nutzbringender verwenden, als indem wir sie draußen blasen lassen, wenn alle ordentlichen Bürger bei Tisch und hinterm Ofen sitzen? Klügeln Sie einmal eine Art Konzerte aus, bei denen einem die Zehen nicht abfrieren und an denen die Allgemeinheit, die die Musik bezahlt, etwas mehr Genußanteil hätte, als an diesen grotesken Winterkonzerten im Freien, die sicher einzig in der zivilisierten Welt dastehen.

HochachtungsvollGrimmberger, Nörgler.
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    Katalognummer BW-AK-012-2596