Original

6. März 1924

Der Herr, der über zweihundert Jahre, also am Aschermittwoch 2124 den Abreißkalender für die „Luxemburger Zeitung“ zu schreiben haben wird, kann sich die Mühe sparen. Er braucht nur das Folgende abzudrucken, das ich zweihundert Jahre im voraus zu seiner Entlastung aufzusetzen so freundlich war. Er wird mir zweifelsohne dafür Dank wissen. Denn über zweihundert Jahre werden am Aschermittwoch die Brummschädel noch nicht seltener geworden sein, als heuer.

Also werden die Abonnenten der „Luxemburger Zeitung“ am Tage nach Aschermittwoch 2124 bei ihrem Morgenkaffee lesen:

Über den Ursprung des Karnevalszuges, der seit zwei Jahrhunderten in der betriebsamen Moselstadt Remich (Groß-Remich mit den eingemeindeten Vororten Bech-Macher Wellenstein, Stadtbredimus, Bous, Ellingen, Scheuerberg und Lo’uschlach) alljährlich am Fastnachtsdienstag oder, wenn dann das Wetter zu schlecht ist, am Mittfastensonntag stattfindet, gehen die Mitteilungen auseinander. Sicher ist nur soviel, daß die Anfänge dieses uralten Brauches in dieselben Jahre zurückgehen, in denen die Weltfirma Caves St. Martin ihren Betrieb begann, dieselbe, die heute Zweigniederlassungen in Hongkong, Bombay, auf Java, in Tokio, Peking und an allen Weltstapelplätzen besitzt, von den europäischen Filialen nicht zu reden, und die noch immer pietätvoll das Mutterhaus in Remich als Zentrum ihres Geschäftes festhält.

Aus den ersten Programmen, die erhalten sind, ist jedenfalls zu entnehmen, daß die Caves St. Martin am Zustandekommen des Zuges aktiv beteiligt waren.

Als sicher verbürgt ist anzunehmen, daß unter den Namen der Gründer bereits die der auch heute noch am meisten verbreiteten Familien von Remich und Umgegend vertreten waren. So werden genannt ein Niko und ein Lucien Klopp, von der Familie der im Moseltal überaus weit verzweigten Klöppe, ferner einer namens Mohr, nicht zu verwechseln mit den adligen Mohr vom Wald, denn dieser war aus der Machergasse; sodann mehrere Follmer, Gretsch, Hein, Feltz, Haas usw., alles Namen, die seit Jahrhunderten in den Taufregistern von Remich stets wiederkehren.

Es wurde lange behauptet, ist indes nicht einwandfrei nachgewiesen, daß im zweiten Jahre, also 1924, der damals so berühmte italienische Diktator Mussolini eigens bestellt worden wäre, um im Karnevalszuge ad oculos zu demonstrieren, wie böse Schwiegermütter gezähmt werden. Vielmehr neigen die meisten Forscher zu der Annahme, der Bändiger sei ein energischer, sonst aber gutartiger Bürger von Remich gewesen.

Bekanntlich wird nun schon seit hundertachtundneunzig Jahren in dem Zug unter Glas und Rahmen ein Gegenstand getragen, der die Aufmerksamkeit und Neugier aller Zuschauer erregt.

Es ist ein schlichtes Strohhütchen von origineller Form, mit einem rosafarbenen Sträußchen geschmückt. Wieso es zu der Ehre gelangt ist, so lange aufbewahrt und alljährlich mit der größten Behutsamkeit durch die Straßen der Stadt getragen zu werden, kann ich hier nach dem zeitgenössischen Bericht von Augenzeugen haarklein mitteilen.

Dieses unscheinbare Strohhütchen wurde nämlich durch eine glückliche Verkettung von Umständen und die gute Laune aller Beteiligten zur Grundlage und gewissermaßen zum Symbol der finanziellen Fundierung dieses langlebigen karnevalistischen Unternehmens.

Im zweiten Jahr des Umzugs, am Fastnachtsdienstag 1924, hatte nämlich obgenannter Mohr aus der Machergasse seinem ohnehin schon vorteilhaften Äußern mit diesem Hütchen gewissermaßen das Tüpfel aufs i gesetzt und zum Erfolg des Ganzen nicht wenig beigetragen.

Als Mohr im Lauf des Abends mit mehreren kapitalkräftigen Freunden zusammensaß, kam ihm der Gedanke, den nunmehr der Geschichte angehörenden Hut durch eine amerikanische Versteigerung an einen andern Mann zu bringen. Dies gelang, und der Hut brachte hundertdreißig Francs ein, für damalige Begriffe und bei dem Wert des Geldes vor zweihundert Jahren eine Summe, die ein anwesender Korrespondent des „Moselbote“ als erkkecklich bezeichnete.

Nachdem das erste Experiment so gut gelungen war, wiederholte es der neue Besitzer, mit dem Ergebnis, daß er dem Hutfundus weitere fünfzig Francs zuschießen konnte. Eine dritte Versteigerung, die originellerweise in absteigender Richtung vorgenommen wurde, hatte nicht denselben pekuniären Erfolg, praktisch aber den, daß gen. Mohr gegen ein Geringes wieder in den Besitz seines Hutes gelangte, den er dann großmütig dem Ganzen vermachte.

Das Geld wurde in Aktien der Caves St. Martin angelegt und durch eine weise, fachmännische Verwaltung so stetig vermehrt, daß heute, nach zweihundert Jahren, aus dem Hutfundus noch immer alle Kosten der Kavalkade bestritten werden und überdies für alle aktiv Beteiligten am Aschermittwoch ein großes Fischfestessen mit außerdem Kaviar und Hummer herausspringt.

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