Während in den Tagen vor Fastnacht der letzte Schnee in einem lauen Südwest zerging, benutzten die Kinder noch eifrig die Gelegenheit, im alten Generalsgarten Schlitten zu fahren.
Ich sah ein kleines Mädchen seinen Davoser einen Miniaturhügel hinaufziehen. Sein Näschen war rot von der feuchten Märzluft, es hauchte in die zitternden Händchen. Dann legte es sich bäuchlings auf den Schlitten und strampelte mit den Beinen, bis es ins Gleiten kam. Drei, vier Meter weit ging die Fahrt, dann nahm das kleine Mädchen seinen Schlitten wieder an die Leine, zog ihn wieder hinauf und begann das Spiel von vorne.
Wenn seine Mama es gesehen hätte, so hätte sie sicher den Kopf geschüttelt und gefragt: „Aber Liebling, was findest du denn daran Schönes und Spassiges?“
Und die Kleine hätte zurückgerufen:
„O Mama, es ist so Freud!“
Und die Mama hätte wiederum lächelnd den Kopf geschüttelt.
Sie hätte unrecht und die Kleine hätte recht gehabt. Denn die Freude an diesem mühelosen Hingleiten, so kurz sie war, wurzelte doch in den Urtiefen menschlicher Art.
Es gibt keinen normal fühlenden Menschen, es gibt zumal kein Kind, das nicht seinen Mordsspaß an einer raschen Bewegung hat. Der Spaß ist um so größer, je stärker das Mißverhältnis zwischen aufgewandter Kraft und Bewegungskoeffizient ist, das heißt, je geringer die Anstrengung und je ausgiebiger die damit erzielte Bewegung ist. Die Freude am Schlittenfahren beruht auf der tiefinneren Genugtuung, daß eine unter Umständen großartige Leistung ohne unser unmittelbares Zutun verwirklicht wird. Der Radfahrer flitzt auf einen mühelosen Tritt in die Pedale seine zehn, fünfzehn Meter dahin und fühlt sich moralisch gehoben, weil er unbewußt das Ergebnis auf Rechnung seiner individuellen Tüchtigkeit bucht.
Und sehen Sie, das hängt wieder mit nichts mehr und nichts weniger zusammen, als mit unserer Ewigkeitssehnsucht, also der tiefsten und letzten Auswirkung unseres Selbsterhaltungstriebes.
Um ewig zu sein, müßten wir Zeit und Raum restlos besiegen. Und gegen diese beiden Urfeinde unseres Individuums hat von jeher die Menschheit ihre stärksten Kräfte eingesetzt, mit wunderbarem Erfolg erst in den letzten Jahrzehnten. Wenn wir von der Befriedigung des Zerstörungsinstinktes absehen, der ganz am andern Ende unserer Urtriebe liegt und der ebenfalls in der letzten Zeit grauenhafte Triumphe gefeiert hat, so hat menschliche Erfindungsgabe, seit die Welt steht, keine folgenschwereren Errungenschaften aufzuweisen, als im Kampf gegen Raum und Zeit, durch Flugzeug und Funkentelephonie. Die Zelt einer Reise von Luxemburg nach Paris zählt nach Wochen, wenn der Mensch mit den Fortbewegungsmitteln rechnet, die ihm die Natur mit auf den Weg gibt, mit seinen zwet Beinen. Im Flugzeug zählt sie kaum noch nach Stunden. Der Raum zwischen meinem Schreibtisch und dem Coventgarden-Theater in London ist auf die Entfernung bis zu unserm T. S. F.-Apparat zusammengepreßt, durch den ich der Aufführung von „Hänsel und Gretel“ beiwohne.
Und so besiegen wir Raum und Zeit, weil wir die Auswirkungsmöglichkeiten unseres Ich der Ewigkeit und Unendlichkeit entgegensteigern, mit unserm Ich die Schöpfung füllen und erfüllen wollen.
Und so anmaßend es klingt, das kleine Mädchen, das bäuchlings auf seinem Davoser den Abhang hinunter gleitet, gehorcht demselben Instinkt, dem Edison gehorcht, wenn er einer weltbewegenden Erfindung nachgrübelt.