Original

11. März 1924

Als ich dieser Tage unter eigenartigen Umständen einen Herrn in den besten Jahren sich als AmateurSolo-Fingerpfeifer produzieren hörte, führte mich das zu der eigenartigen Feststellung, daß der Mensch das einzige Lebewesen sein dürfte, dem es von der Natur gegeben ist, außer Vokalmusik auch Instrumentalmusik ohne Zuhilfenahme eines besondern Instrumentes zu machen. Indem sie nämlich seine Lippen so gestaltete, daß er sie zum Pfeifen benutzen kann. Besonders begabte Individuen verstärken die Wirkung dadurch, daß sie auch eine mehr oder weniger große Anzahl von Fingern benutzen, um darauf zu pfeifen.

Im Gewöhnlichen ist Pfeifen keine salonfähige Betätigung, trotzdem die Lippen das einzige salonfähige Blasinstrument sind, das uns der liebe Herrgott anerschaffen hat. Pfeifen ohne weiteres ist in Gesellschaft, auf der Straße, im Theater usw. verpönt. Wer es dennoch tut, von dem sagt bei uns der Volksmund verächtlich: „E peift ewe e Weedsjong!“ Nur im Theater kann das Pfeifen unter Umständen Form und Bedeutung einer literarischen Kritik annehmen und in solchem Fall dürfen sich die Pfeifer als Kollegen Sainte-Beuve’s, Sarcey’s, Kerrs und Jacobsons fühlen.

Was nun den Salon betrifft, so gehört das Pfeifen in kultiviertem Zustand zu den beliebtesten Gesellschaftstalenten. Sie wissen ja, was man unter einem Gesellschaftstalent versteht: Wenn irgendwo in einer besseren Gesellschaft die Feindin Langweile zu einem Gasangriff ausholt, und ein junger Mann tritt auf, der zum Beispiel mit den Ohren wackeln kann, so ist der Angriff abgeschlagen und der junge Mann kann sagen, daß er über ein Gesellschaftstalent verfügt. Oder er kann aus den Linien der Hand weissagen, oder er weiß, wie man ein Hühnerei durch einen Flaschenhals hindurchpraktiziert, ohne es zu zerbrechen. Ein Gesellschaftstalent ist immer etwas, wozu einer besondere Anlagen besitzen muß und was in keinem Konservatorium gelehrt wird.

Das Pfeifen ist unbedingt an die Spitze der hörbaren Gesellschaftstalente zu stellen. Der Virtuose, der zu diesen Zeilen den Anstoß gab, hat es zu einer Führerstelle in einem der mächtigsten Konzerne des europäischen Festlandes gebracht. Sie werden sagen, das wäre der Fall gewesen, auch ohne daß er hätte pfeifen können. Gewiß, zugegeben. Allein soviel ist andrerseits auch sicher, daß man in derartigen Stellungen gelernt haben muß, auf mancherlei zu pfeifen. Das ist die Kunst, reinen Tisch zu machen, und ohne diese Kunst sind Sie auf Posten mit großer Verantwortung und mannigfaltiger Belastung bald aufgeschmissen. Führernaturen haben es außerdem an sich, daß sie pfeifen und die andern nach ihrer Pfeife tanzen lassen.

Es wird immer ein Rätsel bleiben, wie der Volksmund dazu kam, es als schlimmes Zeichen auszurufen, wenn „die Pfeife ein Loch bekommt“. Eine Pfeife muß doch notgedrungen ein Loch haben, sogar mehrere, sonst könnte derselbe Volksmund nicht von einem Pechvogel sagen, er pfeife auf dem letzten Loch.

Aber das sind Betrachtungen über die Pfeife als Kunstfigur und gehören eigentlich nicht hieher.

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KatalognummerBW-AK-012-2603