Im Theatersaal der „Arbed“ werden von Zeit zu Zeit Vorträge organisiert, die zunächst für das Personal der Arbed, der Terres Rouges und der Columeta bestimmt sind. Doch heißt es auf den Einladungen, daß die Beamten nicht nur ihre Familienmitglieder, sondern jeden, der sich für das Thema interessiert, mitbringen können.
In der Reihe dieser Vorträge fand vor einigen Tagen einer statt, der besondere Erwähnung verdient, sowohl wegen des Vortragenden, als wegen des Gegenstandes. Der französische Geschichtsprofessor Paul Desjardins erörterte die Fragen: Ou en est la reconstruction de l’Europe et comment nous pouvons y travailler.
Paul Desjardins ist der Typ des weltabgekehrten, aber scharfsichtigen Gelehrten und Beobachters, der um so klarer in die Zusammenhänge sieht, je höher er sich über sie stellt, dem es aber grade darum manchmal vielleicht an Einsicht in das mechanische Werden gewisser Zustände gebricht. Er ist ein inbrünstiger Freund und Sucher der Wahrheit und Klarheit. Er sagt nie: Ich weiß - wir wissen, wenn er der Sache nicht sicher ist. Da aber, wo eine Erkenntnis klar und unleugbar vor ihm steht, verkündet er sie mit packendem Nachdruck und einer Eindringlichkeit, deren tiefste Wirkung auf ihrer Schlichtheit beruht.
Als Mittelpfeiler des ganzen Gedankenbaues, den Professor Desjardins vor seinen Zuhörern aufführte, ist festzuhalten: Solange das Vertrauen zwischen den Völkern nicht wieder hergestellt ist, kann Europa nicht wieder aufgebaut werden. Wir glauben einander nicht mehr. Wenn wir Franzosen behaupten, es sei uns nur um das Beitreiben unseres Guthabens zu tun, so verdächtigt man uns eines verkappten Imperialismus. Wenn die Deutschen versichern, sie möchten bezahlen, könnten aber beim besten Willen nicht, so halten wir das unsererseits für Bluff.
Hier hätte der Vortragende das Thema vertiefen und fragen können, an welchem Tag, in welcher Stunde dem Vertrauen zwischen Nationen so brutal der Garaus gemacht würde, daß vielleicht in fünfzig, hundert Jahren die Menschheit sich von dem Schlag nicht wird erholen können. Klarheit darüber wäre unerläßlich für die Beantwortung der Frage, wie das internationale Vertrauen herzustellen wäre.
Herr Desjardins sprach freimütig davon, wie in Frankreich zumal die politische öffentliche Meinung sich durchaus nicht mit der Politik der Regierenden und der Presse deckt. Die Allgemeinheit der Bürger in Frankreich sei zum Beispiel gar nicht einem Verständnis mit Deutschland abgeneigt, während in der Presse anhaltend Stimmung dagegen gemacht werde. Herr Desjardins sprach in diesem Zusammenhang von einer Kundgebung der französischen Universitätsprofessoren aus dem Jahr 1920, und er betonte mit großem Rachdruck, daß schon 1920 in Frankreich sich die Universitätsprofessoren für einen europäischen Staatenbund ausgesprochen hatten. Da sind wir Wilde doch bessere Menschen. Unser alter Eyschen machte schon vor dreißig Jahren Propaganda für die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“.
Der Vortragende erklärte zum Schluß, er sei hauptsächlich auch deshalb gekommen, um im Reflex von Luxemburg über das Deutschland von heute Näheres zu erfahren. Aus der Zuhörerschaft heraus hörte er - leider nur im Zwiegespräch, das für den weiteren Hörerkreis unverständlich blieb - mancherlei, was ihn offenbar stutzig machte: Wie die Deutschen die Jahre nach dem Friedensschluß benutzt haben, sich wirtschaftlich derart zu stärken, daß sie allen andern ein Schnippchen schlagen zu können glauben. Und man ging nachhause unter dem Eindruck, daß es doch mit eigenen Dingen zugehen muß, wenn sie in Paris, trotzdem heute die Franzosen mitten in Deutschland sitzen, manchmal so mangelhaft Bescheid über Deutschland wissen.