Ein betrunkener Mann sitzt im Autobus.
Er sitzt wie in einer Kugel aus Milchglas eingekapselt, die Mitreisenden sind quellige Traumgestalten, die ihm durch die Trübe hindurch undeutlich, an der Peripherie der Kugel durcheinander torkelnd erscheinen. Der Mann kommt von einem Begräbnis. Er sieht im ganzen sauber aus. Sein Kopf fällt hin und her, wie in einem Kugelgelenk, manchmal wird er ihm gar zu schwer, dann legt er ihn vertrauensselig auf die Schulter des älteren Herrn, der den Vorzug hat, neben ihm zu sitzen.
Der Wagen hält und ein neuer Fahrgast steigt ein. Die verschleierten Blicke des Betrunkenen taften sich mühsam an ihm empor und der lallenden Zunge gelingt es in einem energischen Anlauf, folgenden Satz mehr oder weniger deutlich zu bilden: „Aha, auch wieder so ’n Drecksack!“ Es folgen noch einige holperige Silbenkonglomerate, deren Sinn der Umgebung nicht klar wird, mißgeborene Ausläufer lückenhafter Gedankenreihen.
Nächste Haltestelle: Wieder ein neuer Fahrgast. Ein Geschäftsteisender vom bescheidenen, volkstümlichen Typ derjenigen, die auf dem Land Nähmaschinen gegen Ratenzahlungen vertreiben. Der Mann muß stehen, aber er ärgert sich nicht darüber, er lächelt gutmütig und sagt, das sei manchmal nicht anders. Jetzt bemerkt er den Betrunkenen. „Ja ja, der Einundzwanziger!“ glossiert er nachsichtig den Sachverhalt. Der Betrunkene schraubt die Augäpfel nach oben, wie ein sterbender Christus, und seine Zunge versucht, einer Reihe von Verbalinjurien Ausdruck zu verleihen. Mild verächtlich dreht ihm der Beschimpfte den Rücken. Der Betrunkene zieht aus der Tasche ein großes, weißes, auffallend sauberes Taschentuch, räuspert die Produkte der beteiligten Schleimhäute in der Mundhöhle zusammen und spuckt sie ins Taschentuch - will sie hineinspucken, zielt zu tief und trifft den Reisenden auf die Rückseite des Überziehers. Ein Murren der Entrüstung geht durch das Haus. Niemand wagt, dem Bespuckten zu sagen, was geschehen ist. Der Kopf des Betrunkenen legt sich schwer auf die Schulter des älteren Herrn. Dieser meint, sowas sei unerhört, und seine Gattin äußert die Befürchtung, daß der Mann sich demnächst „überschütten“ werde. Die Entrüstung wächst zur Empörung, es werden Stimmen laut, die verlangen, daß der unbequeme Fahrgast an die Luft gesetzt werde.
Der junge Mann, der die Fahrkarten verkauft, klopft mit seiner Coupierzange den Betrunkenen aufs Knie: „He, bezahlen!“
„Was, bezahlt hat er auch nicht!“ - „Das ist bequem, sich betrinken, daß man nicht mehr weiß, ob man ein Junge oder ein Mädchen ist, und dann auch noch nicht bezahlen!“ Mehrere Passagiere sagen halblaut, er habe Geld, sie haben es gesehen, er könne sehr wohl bezahlen. Der Mann wird von Minute zu Minute interessanter. Einige sangen an, ihn heimlich zu bewundern: Den ganzen Wagen voll von Mitreisenden beschimpfen, belästigen, bespucken, dazu seinen Platz nicht bezahlen - dazu muß einer Schneid haben.
Ein junges Mädchen steigt ein. Die Augen des Betrunkenen irrlichtelieren sie an. Man weiß nicht, ob die Laute, die er lallend von sich gibt, Schmeicheleien oder Gemeinheiten sind.
Den eindringlichen Mahnungen des Schaffners setzt der Betrunkene eine unerschütterliche Passivität entgegen. Da muß der Chauffeur eingreifen. Der Chauffeur hat Fäuste, die eine sehr starke Leistungssähigkeit verraten, und er sagt zu dem Betrunkenen: „Jetzt bezahlt, hörst du, oder du fliegst heraus, dann kannst du unter dem nöchsten Nußbaum übernachten!“
Spricht’s, schlägt die Türe zu und klettert auf den Führersitz, anscheinend in Angst davor, daß ihm der Betrunkene frech käme, und daß er alsdann an ihm ein Exempel statuteren müßte.
Und nun geschieht, was geschehen mußte. Nun hat die Obrigkeit Stellung genommen gegen den Widerspenstigen, nun nimmt die öffentliche Meinung Stellung für ihn: Es sei doch nicht in Ordnung, daß man einen Menschen so ohne weiteres in Nacht und Nebel hinausstoße, mit einem Betrunkenen müsse man Nachsicht haben, das könne jedem passieren, und der Mann werde schon noch bezahlen, und wenn er nicht bezahle, „so bezahle ich!“, sagte der Herr, auf dessen Schulter der Kopf des Betrunkenen ruhte, und das junge Mädchen bückte sich und hob das Taschentuch auf, das dem Betrunkenen entfallen war, und drückte es ihm freundlich lächelnd in die Hand.
Und ein Mitreisender sagte zu seiner Nachbarin „Sehen Sie, Madame, der Mann hat ganz recht. Warum soll er bezahlen! Ich kenne einen, der schon seit annähernd sechs Jahren bezahlen soll und ich auch so lange drückt, bis vielleicht etwas geschieht, was ihn vorm Bezahlen rettet.“
„Wen meinen Sie?“ fragte die Nachbarin.
Aber da hielt der Wagen, man war am Ziel und trennte sich. Und man konnte sehen, wie der Betrunkene sein Beutelchen zog und willig den Preis seiner Fahrkarte erlegte.