Wir reden ohne weitere Ergriffenheit von unsern Vettern, Onkeln, Tanten oder Kusinen aus Amerika. Im unvertieften Hindenken über das Verhältnis zu räumlich so weit entfernten Verwandten werden wir nicht ersaßt von der Bedeutung der Tatsache, daß dort drüben überm Weltmeer Menschen, die wir nicht kennen und die unseres Blutes sind, ohne Ahnung von unserm Dasein parallel mit uns im Leben schwingen, auf Leid und Pein mit demselben Wesenston reagieren, wie wir.
Familienähnlichkeit zwischen Geschwistern wie zwischen Eltern und Kindern wird als etwas Selbstverständliches hingenommen und grüblerischer Betrachtung nicht für wert gehalten. Dieselbe Ähnlichkeit zwischen Vettern, die uns nichts angehen, gibt uns ebensowenig zu denken, weil wir dadurch in keiner Weise berührt werden. Wir finden es beiläufig komisch, wenn wir mit dem Hary diskutieren und er saßt das Thema genau mit derselben Erregung oder Skepsis, demselben Lachen, demselben Glanz in den Augen und demselben Handwurf an, wie sein Vetter Jumpes. Aber die Feststellung geht uns nicht an die Nieren. Erst wenn uns solche Ähnlichkeiten an eigenen Verwandten einer Seitenlinie frappieren, steht auf einmal dahinter die Mahnung: Tua res agitur. Und wir fühlen uns angehaucht von der triebschweren Atmosphäre aus den geheimsten Werkstätten der Natur, fühlen uns auf einmal stärker im Bann des gemeinsamen Blutdämonen, der jedem Individuum seine seelische Schwerkraft gibt.
Und dann auf einmal denkst Du mit ganz andern Empfindungen an den Vetter aus Amerika, an jenen Fremden, der ein Stück von Dir ist - den Du nie gesehen hast, der in eine total verschiedene Umwelt, in eine andere Menschheit, eine andere Kultur, einen andern geistigen Rhythmus hineingeboren ist, dessen Sprache Du vielleicht und dessen Inneres Du ganz sicher nicht verstehst und der doch seinen Antrieb aus denselben atavistischen Tiefen empfängt, wie Du. Und Du weißt sofort: Wenn ich ihm einmal begegnen werde, wird sich mein Blick in seinen bohren, denn ich will sehen, ob ihm dasselbe Brentano’sche „Kindchen im Augapfel“ wohnt, wie mir, ob in seinen Zügen derselbe seelische Hauch wittert, den ich als Hauch meines Wesens empfinde. Du freust Dich seines Aufstiegs, weil Du weißt, daß seine Kraft, sein Temperament aus der Blutguelle kommen, die durch Geschlechter herauf auch in Deinen Pulsen schlägt. Es ist, als sei Dein Individuum in ihm veräußerlicht, projiziert, als hättest Du Dich selber, entdoppelt, vor Dir auf dem geistigen Seziertisch liegen. Du fühlst den Zauber jenes Ewigkeitswahns, der aus jedem Ich den Mittelpunkt der Welt macht und der seinen prägnantesten Ausdruck in dem Bibelvers gefunden hat:
Et semen ejus hereditabit terram!