Auch das Kinn des Menschen ist eines der Merkmale, die ihn vom Tier untetscheiden.
Tiere haben weder Stirn noch Kinn. Vom Kinn sollte man annehmen, daß es sich beim Tier ganz naturgemäß entwickelt hätte, weil es als Sitz der Angriffslust, des Draufgängertums gilt, zwei Eigenschaften, die bei manchen Tieren in außergewöhnlichem Maße vertreten sind.
Daß sie trotzdem kein Kinn haben, liegt also wohl daran, daß die gleichen Eigenschaften, wenn beim Menschen das Kinn auf ihr Vorhandensein deutet, mit dem höheren Intellekt durchsetzt sind, den wir den Tieren absprechen.
Ich betrachtete eben ein Bildnis des unvergeßlichen Dr. Martin Klein, des Vaters von Bad Mondorf. Er ist mit verschränkten Armen, eine Hand am Kinn dargestellt.
Versuchen Sie, sich dies Porträt umzudenken, die Hand an die Stirn: Sofort wäre die Wirkung auf den Beschauer eine total andere, obgleich im Ausdruck der Züge nichts verändert wäre: Weil je nach Betonung des Symbols einer Eigenschaft diese vom Beschauer in der Person des Dargestellten als momentan ausschlaggebend gedacht wird. Man stellt sich unwillkürlich vor, daß jemand, der sich ans Kinn greift, in ruhigen, entschlossenen, fertigen Gedanken verlieft ist, während ein anderer, der die Hand an die Stirne führt, offenbar erst zu einem Entschluß oder einer Erkenntnis gelangen will. Dort der Tatmensch, hier der Grübler.
Es steht Dir, lieber Leser, frei, das Experiment weiter auszubauen. Stelle Dich vor den Spiegel und mache erst die Probe auf das Exempel: Hand an die Stirn, Hand ans Kinn. Siehst Du, es stimmt. Dann etwa Hand an die Nase: Auf einmal bist Du nicht mehr der Mann der Tat oder des Spintisierens, sondern der Schlaumeyer, der ausheckt, wie er etwas besonders raffiniert schieben wird. Denn für feine Witterung im Spüren von Freund und Feind ist die Nase Organ und Sinnbild.
Es ist bezeichnend, daß für Stirn wie für Kinn im Männlichen und Weiblichen die Ideale total verschieden sind. Eine Frau mit hoher Denkerstirn ist nicht schön - um es sehr primitiv auszudrücken. Zieht ihr Hosen an und sofort hat die Stirn ihre ästhetische Rechtfertigung. (Nein, sehr verehrte Freundin, ein normaler Mann wird sich nie in eine Frau mit hoher Denkerstirn verlieben. Das wißt Ihr Frauen, darum wollt Ihr immer, was Euch der liebe Gott von Stirn gegeben hat, unter Euerm Haar verstecken.)
Was oben die hohe Stirn, das ist unten das herausgearbeitete Kinn. Der Frau gehört ein niedliches, rosiges Kinn mit einem Grübchen, dem Mann der breit und trotzig ausladende Unterkiefer, das männliche Schönheitsideal des Amerikaners, der denn auch, wo wir das Kinn meinen, den Ausdruck jaw, Kieser, gebraucht und ihm zulieb glatt rasiert geht. Nicht immer freilich deutet die Stärke des Kinns und der Kinnlade auf männliche Energie und Entschlossenheit, manchmal nur auf einen phänomenalen Appetit. Ein Wasserkopf kann ja unter Umständen auch eine Gelehrtenstirn haben. In dieser Hinsicht ist es vielleicht nicht ohne Beziehung, daß in der Bibel der Kinnbacken, der als Waffe gegen die Philister diente, von einem Esel herrührte. Und einigermaßen im selben Sinn konnte einer der größten Denker seiner Zeit einmal schreiben, die Energie sei die gefährlichste aller Tugenden, weil sie wahllos die Dummheit wie die Klugheit multipliziert.
Mit der Nase teilt das Kinn das Verkanntsein seltens der Dichter. Wie die Nase von der Romantik unbesungen ist, so das Kinn. Es kann sich trösten. Es hat auch lang gedauert, bis die Dichter die Schönheiten der Lokomotive erkannten und Verfe darüber machten.
Nun ist noch hervorzuheben, daß es beim Kinn durchaus nicht nur auf die Größe, sondern auch auf die Form ankommt. Beim vlämischen Typus beispielsweise treffen wir vielfach ein zurücktretendes Kinn trotz der unbeugsamen, zähen Energie, die das Individuum auszeichnet. Manches relativ kleine Kinn springt wiederum aus einer Zurückgezogenheit aufgebäumt nach vorn, wie um zu sagen: Kleiner Mann lebt noch!
Nur das Kinn ist häßlich, das in seiner Linie Feigheit, schlappen Verzicht und Kleinlichkeit ausdrückt. Es gibt solche.