Wir Große vermessen uns, die Kleinen zu erziehen. Aber was wissen wir denn von ihrer Seele? An die eigene Kindheit zurückdenken, uns erinnern, wie wir selbst mit sieben, acht Jahren dem Leben gegenüberstanden - können wir das noch?
Dieser Tage schellte es am Gartengitter. Ich war allein zuhaus. Ich sah durchs Fenster zwei Bübchen am Tor stehen und mich erwartungsvoll ansehen. Einer davon kam mir bekannt vor. Er hatte ein wunderhübsches Lausbubengesicht, das von braunschwarzem, üppigem Haar eingerahmt war. Wo hatte ich ihn doch schon gesehen?
Ich ging hinaus und frug, was sie wollten. Kirschzweige möchten sie haben, für ihre Mutter, die würde sie ins Wasser stellen und die Blüten heraustreiben.
Da erinnerte ich mich, wie ich eines Tages nachhaus ging und von weitem ein Rude. Abeschützen an unserm Tor stehen sah. Einer davon läutete an der Schelle Sturm, alle waren gespannt, daß das Dienstmädchen bei der Haustür herausstürzen und sie wieder schimpfen würde, wie jeden Tag, und wie sie johlend Reißaus nehmen würden. Ich fuhr mit Kotzdonner unter sie und sie stoben auseinander, wie die Spatzen. Der Schlingel von Anführer - jetzt erinnerte ich mich deutlich - war der kleine Schlawiner, der jetzt am Gitter stand und Kirschzweige für seine Mutter geschenkt haben wollte.
„Dich kenne ich!“ sagte ich drohend. „Du warst der Nichtsnutz, der immer schellte und davon lief.“
„Ich auch,“ sagte der andere harmlos.
„So so!“ Ich war schon entwaffnet. „Und nun soll ich Euch auch noch Kirschzweige schenken!“
„Der Lehrer hat gesagt.“
„Versprecht Ihr mir, das Mädchen nicht mehr herauszuschellen?“
Sie sahen einander an, als wollten sie sich fragen, ob sie eine solche Verantwortung übernehmen könnten. Dann nickten sie ja, ohne allzu tiefe Überzeugung.
„Und wenn die Kirschen reif sind, klettert Ihr mir auch nicht über die Mauer?“
Diesmal entbehrte das Versprechen jeglichen Nachdrucks.
„Was wollt Ihr denn jetzt noch?“ frug ich, als sie keine Miene machten, sich zu empfehlen.
„Haben Sie keine Holzkohle? Der Lehrer hat gesagt, wir sollen unserer Mutter sagen, sie soll Holzkohle ins Wasser tun.“
Ich hatte leider keine Holzkohle. Da gingen sie.
Mittags bei Tisch erzählte meine Frau, früh am Vormittag seien zwei Bübchen aus der Nachbarschaft da gewesen und hätten um Kirschzweige zum Treiben gebeten und sie hätte ihnen geraten. Holzkohle ins Wasser zu tun, und sie hätten ihr versprechen müssen, niemals mutwilligerweise das Mädchen herauszuschellen und nie unsere Kirschen zu stehlen. Natürlich waren es dieselben zwei kleinen Halunken, die auch mich eine Stunde später gebrandschatzt hatten.
Ich sehe das hübsche Bubengesicht deutlich vor mir, wie ich sagte: „Du warst der Nichtsnutz, der immer schellte und davonlief.“ Der kleine Kerl sah mir unverwandt in die Augen, tat gar nicht dergleichen, als ob er jetzt in den Boden sinken müßte vor Scham und Reue, es machte ihm nicht mehr Eindruck, als ob ich ihm gesagt hätte, wieviel Uhr es war. Ich war ihm ein Wesen, zu dem er keinerlei menschliches Verhältnis hatte, irgend etwas, vor dem man sich in Acht zu nehmen hatte, wie vor einem fallenden Stein, oder das zu etwas Vorteilhaftem zu gebrauchen war, aber dem man keinen Dank dafür schuldig war. Weiß ein Kind, was Dank ist? Nein, es ist der reinste Utilitarier und Egoist. Und ist es nicht wesentlich am Glück des Kindes, daß sein Seelenleben mit keinerlei schwülen Gemütsbewegungen belastet, daß es nur für rein Sachliches empfänglich ist?