Viele Leute ärgern sich, daß sie am nächsten Sonntag zur Wahlurne schreiten müssen.
Ich nicht. Ich freue mich darauf.
Ich wohne in Neu-Merl und meine Wohlsektion ist in Bonneweg-Süd, Schulhaus, erstes Stockwerk, erste Türe links. Sie sehen, der Weg zur Wahlurne führt mich quer durch ganz Großluxemburg.
Ich hätte in diesen teuern Zeiten nicht daran gedacht, mir eine Reise nach dem Süden zu leisten. Da mich aber das Gesetz dazu auffordert, mache ich aus der Not eine Tugend. Bonneweg-Süd, wie anheimelnd das klingt! Man wittert schon von hier aus das südliche Klima, man sieht die Heckenrosen blühen, das Wiesenschaumkraut weite Flächen mit seinem zarten Lila überziehen, Orangen im dunkeln Laub glühen, kurzum, den ganzen Süden, wie er seine Frühlingspracht entfaltet. Wir hier oben im Norden und Nordwesten meinen schon, was wunders los sei, wenn ein Krokus sein warmgelbes Näschen neugierig aus der Erdkruste streckt, es ist daher ganz natürlich, daß allein schon das Wort Bonneweg-Süd die üppigsten Vorstellungen einer transalpinen Frühlingsvegetation weckt und wir uns mit Wonne auf die Wanderung dorthin begeben.
Über die Reiseronte sind wir im Klaren, ebenso über alles Materielle des Unternehmens. Um sieben Uhr früh wird aufgestanden. Abends vorher werden die Rucksäcke gepackt. In dem einen finden die Aluminiumkocher mit dem Spiritusvorrat Platz, auf zwei andere werden die Provisionen verteilt, im vierten wird das Zelt verpackt, denn bei der weiten Fahrt muß für alle Fälle vorgesorgt werden.
Was die Ausrüstung betrifft, so haben wir uns auf Tiroler Loden geeinigt. Es kann sein, daß bei der Abreise die Sonne noch über Berg und Tal scheint, und daß später am Tag Regen einfällt. Als Schuhwerk haben wir jedes ein Paar solide Innsbrucker Bergschuhe gewählt. Damit ist man auf alle Fälle gesichert. Das Dienstmädchen will sich uns anschließen. Es ist in der großen niederrheinischen Ebene zuhaus und möchte gar zu gern einmal das Gebirge kennen lernen. Den Kater Puß geben wir bis zu unserer Helmkehr bei Nachbarn in Pflege.
Um dem Drang des Dienstmädchens nach dem Gebirge zu genügen, wählen wir den Hinweg durch die Altstadt, weil da überall die Straßen aufgerissen sind und sich zu den halsbrecherischsten Kletterpartien Gelegenheit bietet. Aber wenn man mit guten Bergstöcken ausgerüstet ist, sind solche Bergtouren relativ leicht zu bewältigen.
Über Fischmarkt, Breitenweg, Grund, Schleusenbrücke usw. gelangen wir in anregendem Gespräch über Gemeindepolitik, das mit Jodeln abwechselt, auf die Höhe, wo das Bakteriologische Institut ragt und von da quer durch Bonneweg, an der Rotundenstraße vorüber nach Bonneweg-Süd, froh der empfangenen Eindrücke Die Erledigung des Wahlgeschäftes nimmt nur geringe. Zeit in Anspruch. Dann lagern wir uns malerisch auf der Wiese vor dem Wahllokal und bereiten unser Frühstück. Ob das Zelt aufgeschlagen wird, hängt vom Wetter ab. Während wir uns dann nach dem Imbiß das bunte Treiben der Wähler und Währerinnen um uns herum ansehen, deklamiert eines von uns den Osterspaziergang von Goethe.
So ruhen wir uns gemütlich von den Strapazen der Wanderung aus, bis es Zeit wird zum Aufbruch. Selbstverständlich, wählen wir diesmal einen ganz andern Weg. Wir gewinnen unter der Knochenmühle hindurch über den Hauptbahnhof und durch die JosefJunckstraße das Feldchengebiet und durchwandern es nach allen Richtungen, um uns von der Riesenaufgabe ein Bild zu machen, die die Straßenbenennungskommission hier schon erfüllt hat und noch zu erfüllen haben wird.
Wir überqueren die Petruß in der Flucht der Gutehoffnungsbrückenstraße, steigen gemächlich die jenseitige Höhe hinauf und sehen bald in der Ferne das traute Heim winken, auf dessen Schwelle der Kater Puß uns schnauzleckend erwartet.
Froh und zufrieden im Bewußtsein erfüllter Bürgerpflicht und einen schönen Tag verlebt zu haben, ziehen wir zuhause wieder ein und stellen mit Genugtuung fest, daß keine Einbrecher die Gelegenheit benutzt haben, der verlassenen Wohnung einen Besuch abzustatten.