Am Sonntag, 23. März, stand in der „Luxemburger Zeitung“ folgende Meldung:
„Gestern nachmittag gruben Arbeiter in der neuen Straße, die die Wilhelm- mit der Merlerstraße verbindet, vor einem der Baugesellschaft für billige Wohnungen gehörenden Hause einen Abflußkanal. In einer Tiefe von etwa 50 Zentimeter stießen sie dabei im Lehmboden auf zwei gut erhaltene Skelette, ein männliches und ein weibliches. Die Knochen gehörten wohlgebauten, ausgewachsenen Menschen, die Schädel sind namentlich gut konserviert und weisen alle Zähne auf. Neben dem männlichen Skelett lag ein gut erhaltenek Leinwandbeutel mit zwei prächtigen Silberthalern, die die Aufschrift tragen: «Fredericus Borussorum Rex», auf der Rückseite: «Deutscher Reichsthaler» mit der Jahreszahl 1770 der eine, 1786 der andere. Diese Thaler waren im ersten Jahrzehnt des verflossenen Jahrhunderts noch in Kurs, und so schließt man vorläufig, daß die beiden Personen zu jener Zeit dort begraben wurden.
„Ein großer bleierner Trinkbecher, sowie etwa 20 Knöpfe mit drei Löchern zum Annähen, anscheinend an Frauenkleider, sowie eine große Halskette mit Porzellankugeln lagerten ebenfalls an der Fundstätte. Ein Schauer ergriff die Anwesenden, als auch ein Büschel schwarzer Haare dem Grabe entnommen wurde.
„Es dürfte nicht ausgeschlossen sein, daß die beiden Personen vor etwa hundert Jahren einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Die Gegenstände, namentlich die Knöpfe lagen so, daß man vermuten könnte, sie seien von änzwischen verwesten Kleidern abgefallen, die den Personen um oder auf die Köpfe gelegt waren und vielleicht ihren Tod durch Ersticken bewirkt hatten. Zu jener Zeit war das ganze Gelände zwischen Merlerstraße und Hollerich Ackerland. Herr Polizeikommissar Ettinger ließ Knochen und Gegenstände in einer Kiste sammeln und ins Bakteriologische Laboratorium bringen, wo Herr Dr. Schmoll weitere Untersuchungen anstellen wird.“
Zu jeder andern Zeit des Jahres hätte eine solche Nachricht die halbe Stadt auf die Beine gebracht. Jedermann hätte den luxemburgischen Tut-ank-Amon und seine Pharaonin sehen wollen, jedermann hätte seine Vermutungen über die geheimnisvolle Geschichte angestellt, deren Schlußkapitel hier erlebt wurde.
So aber verlief sich das ganze Abenteuer im Sand. Warum? Weil jedermann hinter der Meldung einen Aprilscherz witterte. Für so schlecht hielten sie uns, daß wir die Leute schier mitten im März in den April hätten schicken wollen!
Und doch war an dem Bericht alles buchstäblich und wortwörtlich wahr. Jemand von meiner Bekanntschaft hat sich von den beinernen Knöpfen einige verschafft und auch von der vermeintlichen Halskette besitzt er mehrere Küglein. Sie sind nicht viel dicker, als ein Stecknadelkopf, weiß und mit bunten Strichlein angemalt.
Was hat die Untersuchung des Herrn Dr. Schmoll ergeben? Verbrechen oder Selbstmord? Wahrscheinlich Verbrechen, denn es erscheint ausgeschlossen, daß sich ein Liebespaar umbringt und darnach 50 Zentimeter tief in den Ackerboden eingräbt. Der Ort, wo die Skelette gefunden wurden, liegt heute innerhalb der Stadt. Vor fünfzig Jahren, jedenfalls zur Festungszeit Luxemburgs, lag er ein halbes Kilometer vom Weichbild der Stadt bezw, der Festungsumwallung, als deren äußerste Grenze man die Reihe der schönen alten Ulmen ansehen darf, die am untern Teil des Äußeren Rings zum Teil noch in mehreren Gärten erhalten ist.
Die beiden Toten wurden damals in den „Merker Wiesen“ sicher ohne Sang und Klang und ohne Geistlichkeit begraben. Damals aber war es Sitte, daß jeder, der auf Reisen ging, einen Rosenkranz einsteckte, damit er, falls er verunglückte, als gut christkatholischer Leichnam identifiziert und kirchlich begraben würde.
Und nun dürfen wir einen Schritt weiter gehen und die Vermutung aussprechen, daß die bei den namenlosen Skeletten gefundene Halskette keine Halskette, sondern ein Rosenkranz war. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit dieser Miniaturrosenkränze aus winzigen, farbigen Porzellanperlen, und ich möchte schwören, daß wir es hier mit einem solchen zu tun haben. Bei einer Halskette sind die einzelnen Perlen an einer Schnur aufgereiht; die bei den zwei Leichen von Neumerl gefundenen Perlen aber zeigen noch deutliche Spuren des Metallkeitchens, das sie miteinander verband. Die Vermutung wäre leicht auf ihre Richtigkeit zu prüfen, wenn sich feststellen ließe, ob einzelne der Perlen dicker waren, als die andern. Im Anschluß hieran ließe sich vielleicht ermitteln, wo und um welche Zeit diese zierlichen Rosenkränzchen Mode waren und fabriziert wurden, und ein Schimmer wenigstens fiele in das Dunkel, das jenen grausigen Fund einhüllt. Und ist es nicht wie ein quälender, unaufgetöster Akkor, daß wir über ihn die Wahrheit nicht wissen können? Da ist einer der Fälle, wo es klar wird, daß der Drang nach Wissen unabhängig ist von jeder praktischen Erwägung, daß das Wissen an und für sich uns etwas Kostbares dünkt, einertei, ob damit Positives zu erzielen ist oder nicht.