Original

25. April 1924

In den Himmel, der sich über das weite, herrliche Rheingau spannt, steigt ein Rauchwölkchen, unter einer feierlichen Temperkuppel sinkt in lodernden Flammen ein Menschenleib zu einer Hand voll Asche zusammen.

Das ist, was vom irdischen Teil eines Mannes zurückbleibt, der eine Zeitlang in den vordersten Reihen der politischen Streiter in unserm Lande stand.

„In Breslau ein Kirchhof,Ein Toter im Grab:Dort schlummert der Eine,Der Schwerter uns gab.“

So sangen die deutschen Arbeiter, die nach dem Grabe Ferdinand Lassalle’s pilgerten, als ihn die Kugel des Janko v. Rakowicz gefällt hatte.

Ähnlich können die luxemburger Arbeiter von Dr. Michel Welter singen. Denn als Kernstück seiner politischen Tätigkeit wird bleiben, daß er dem Sozialismus Eingang in die offizielle Politik des Landes verschafft und den Grundstein zu einer systematischen Organisierung der Arbeiterschaft gelegt hat. Schwache Versuche, die vor ihm in derselben Richtung unternommen worden waren, hatten ein dürftiges Anfangsstadium nicht überwinden können, es brauchte die Wucht eines Temperaments, wie es Welter besaß, um die sozialistische Maschine auch hierlands in Gang zu bringen.

Was ihn auch sonst in die Politik getrieben haben mag, eins ist sicher: Er wollte helfen. Das war ein wesentlicher Einschlag seines Seelengewebes, dies Bedürfnis zum Helfen. Er wandte sich instinktiv denen zu, die der Hilfe gegen Ungerechtigkeit, Irrtum, menschliche Tücke bedurften. Dieser Zug ist bis in die allerletzte Zeit bei ihm vor allen andern hervorgetreten, und neben einem so edeln Beweggrund mögen andere, weniger hoch zu wertende bei der Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit zurücktreten.

Schon als junger Gymnasiast und später auf hohen Schulen fand Welter Gelegenheit, seine Lust am Helfen zu betätigen. Er brachte es fertig, einen Lernstoff, ob er zu seinem Fach gehörte oder nicht, sich gründlich anzueignen, um ihn einem andern einzuprägen. Das gab seiner ganzen politischen Betätigung die Signatur. Er warf sich wie mit Heißhunger auf die Materie eines Gesetzes, machte sie sich zu eigen und gab sie in der Kammer wieder von sich, er dozierte, er führte in unser Parlament das Reden des Redens wegen ein und setzte sich damit in Gegensatz zu den alten Gepflogenheiten, nach denen das eigentliche Reden als Nebensache, der unmittelbare Zweck als Hauptsache zu betrachten war. Viele erinnern sich noch der Verblüffung, mit der Welters erste Rede in der Kammer aufgenommen wurde. Es handelte sich um das Anbringen von Kruzifixen in den Gerichtssälen. Welter nahm daraus Anlaß, von Christus und seinen Worten über den Eidschwur zu reden. Christus habe den Eid verdammt, die ganze menschliche Gerechtigkeit sei nicht von weit her, der Heiland sei gegen die Justiz gewesen und habe geraten, einem Schuldner lieber das ganze Geld zu schenken, als es einzuklagen. Und wenn man Kruzifixe aufhängen wolle, so solle man zum Beispiel eines in der Zelle der Ehebrecherin aufhängen und darunter schreiben: Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein auf sie! - oder in die Zelle des Mörders, mit der Aufschrift: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!

Der tiefste Gegensatz, der vielleicht je zwischen zwei luxemburger Politikern bestand bildete sich nach und nach zwischen Paul Eyschen und Michel Welter heraus, diesen zwei Öslingern, die die gleiche Zähigkeit, aber ein ganz verschiedenes Temperament besaßen.

Als Welter in die Politik einzog, war unter anderm der Riesenbau der sozialen Versicherungen schon im Plan und Gerüst und in vielen Teilen im Rohbau fertig, und auch die nötige Stimmung war dafür vorhanden, sonst wäre Eyschen damit nicht vor die Kammer getreten, denn er hat es oft ausgesprochen, daß man ein Gesetz erst dann machen soll, wenn es schon im öffentlichen Rechtsbewußtsein latent besteht. Er sagte in der Folge bei verschiedenen Gelegenheiten, er sei dem Theoretiker Welter gegenüber der praktische Sozialist. Das wäre für den Gründer und führenden Geist des luxemburger Sozialismus schon Grund genug gewesen, sich über den Minister zu alterieren. Eyschen war tatsächlich der Politiker nach dem Grundsatz: Politik ist die Kunst des Erreichbaren, Welter sah klar das Ziel, aber er ging mit dem Kopf durch die Wand darauf los. Eyschen war für hiesige Verhältnisse lange der Prototyp des glatten Weltmannes, Welter der knorrige Naturbursche und Gehirnmensch, Eyschen der zungengewandte Redner und Causeur, Welter der Mann des starren, holperigen Worts, der keine Rücksicht auf seine Zuhörer nimmt und ihnen unbeholfen vor den Kopf sagt, was er für wahr hält, dabei aber nicht selten im Affekt Wirkungen erzielt, wie sie aufrichtigen Wallungen zuweilen auch ohne Rhetorik beschieden sind. Immerhin hätte Welter als Parlamentarier unendlich viel gewinnen können, wenn er die Kunst geübt hätte, Manches ungesagt zu lassen, statt immer alles sich herunterzureden, was er über eine Frage wußte. Aber so war er und so wollte er verbraucht sein: Fiat justitiá. pereat mundus!

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  • portrait- socialism Welter vs Eyschen
KatalognummerBW-AK-012-2641