Original

26. April 1924

In den ersten Maitagen hält die internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit einen Kongreß in Washington.

Mit dem Programm dieses Kongresses wird eine Broschüre versandt, die in französischem, englischem und deutschem Text zehn Briefe aus den Akten des französischen Ausschusses für Kinderhilfe enthält.

Der erste Brief ist von Professor Leon Bernard, Mitglied des Ehrenausschusses, an Frau René Dubost, Präsidentin des französischen Ausschusses. Er meldet seinen Austritt an, weil er nicht billigen kann, daß mit französischem Geld die Kinder eines Volkes unterstützt werden, das im Haß gegen Frankreich und in der Hoffnung erzogen wird, später einmal die französischen Kinder hinzumorden. Wenn die reichen Deutschen menschlicher dächten, könnten sie mit den Kapitalien, die sie im Ausland verstecken, um ihren Verpflichtungen zu entgehen, selbst für die ausgiebige Ernährung der deutschen Kinder sorgen. Übrigens gibt es in Frankreich Kinder genug, die die Hilfe bräuchten, die man jetzt den deutschen Kindern zuwenden will. Leon Bernard schließt mit der Bitte um Veröffentlichung seines Briefes.

Im selben Sinn schreibt Professor A. Calmette. Auch er verweist auf die Pflicht der deutschen Kapitalisten und Großindustriellen, für die Kinder ihres Volkes zu sorgen, und auf die barbarische Behandlung der französischen Bevölkerung während des Krieges durch die Deutschen, Deportierung von 30 000 Frauen und Mädchen von Lille, Roubaix und Tourcoing während der Osterwoche 1916.

Frau René Dubost entwickelt in ihrer Antwort den biblischen Standpunkt, der gestern an dieser Stelle in den Zitaten aus Michel Welters erster Kammerrede zum Ausdruck kam. „Glauben Sie nicht, daß diese großmütige Geste einer Gruppe von Franzosen die Versöhnung fördern und den Geist des Hasses zerstreuen wird?“ - „Gewiß wurden in unsern besetzten Gebieten Greuel begangen, aber ein guter Franzose sieht seinen Ruhm darin, sie mit einer Gebärde der Großmut und Verzeihung zu beantworten. Gewiß besteht in Deutschland ein hestiger Haß gegen Frankreich, aber wenn etwas ihn mildern kann, so ist es eine hilfreiche Handlung seitens der Franzosen.

Es folgen ohne Namensangabe sechs Briefe von Franzosen, die die Haltung der Frau René Dubost billigen und ihr Beiträge für ihr Hilfswerk einschicken.

Frau René Dubost und die Frauen, die in den ersten Maitagen in Washington der Welt ein neues Statut geben und die ewige Herrschaft des Friedens einsetzen wollen, vergessen eines: Die Welt wird letzten Endes nicht vom Gefühl, sondern von der Vernunft, nicht von den warmen, sondern von den kalten Herzen regiert. Das ist zu bedauern, aber es ist Tatsache. Wir legen in die Natur auch unsere Stimmungen hinein und glauben sie mit unserm Gefühl verwachsen, während sie rücksichtslos ihre Gesetze erfüllt.

Der Stifter des Christentums sagte in der Bergpredigt: „So dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich jemand nötiget eine Meile, so gehe mit ihm zwo. Wer dir das Deine nimmt, da fordere es nicht wieder. Gib dem, der dich bittet und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will. Liebet Eure Feinde. Segnet, die Euch fluchen, tut wohl denen, die Euch hassen. Bittet für die, so Euch beleidigen und verfolgen. (Matth. 5, 39-44, Lukas 6, 30.)

Als Michel Welter damals diese biblischen Worte zitierte, beeilte sich der katholische Abgeordnete Emil Prüm zu bemerken, es handle sich nicht um Vorschriften, sondern nur um Ratschläge Christi.

Tatsächlich kehren sich heute die allerbesten Christen nicht mehr an die Bergpredigt. Fragen Sie einmal den frommen Marschall Foch, ob er Christum zu beleidigen fürchtet, wenn er sein Land gegen künftige deutsche Überfälle sichert, und fragen Sie die geistlichen Herren, die ihre Ersparnisse hier bei einer Bank anlegen, ob sie es für eine verdienstliche Handlung hielten, wenn ihr Bankier sich „nicht von dem abwändte, der ihm abborgen will“ - ohne die nötige Garantie.

Auch die Lehre des Konfuzius läßt sich mit dem Christentum auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Gegenseitigkeit. Liebet Euch untereinander! Und er hat damit im fernen Osten ebensowenig die Welt erobert und gebessert, wie das Christentum. Doch, in der Frauenwelt ist ganz zuletzt immer noch der Glaube an den ewigen Frieden und die ewige Verträglichkeit unter den Menschen verankert, aber m nur, wenn sie sich vorher gründlich verhauen haben. Bei Kriegsanfang lasen wir umgekehrt, daß gerade einzelne Frauen am hysterischsten den Haß predigten.

Mein Freund Grimberger sagte mir, daß er im allgemeinen nicht viel von diesen Frauenvereinigungen für Friede und dergleichen hält. Sie tun gern Gutes in die Welt, wenn andere das Geld dazu geben, und ihren Bedarf an Zanksucht und Bosheit decken sie dann am heimischen Herd.

TAGS
  • women for peace
KatalognummerBW-AK-012-2642