Im „Bäder-Blatt der Frankfurter Zeitung“. - Beilage zum II. Morgenblatt der „Frankfurter Zeitung“ vom 27. April 1924 - veröffentlicht ein Herr Erwin Reiche folgendes „Reisestück“ aus Luxemburg:
„Vom Bahnhof aus in Luxemburg hat man, der vermutlichen Stadt zugerichtet, die Empfindung einer riesenbreiten Steinstraße, deren lückenhafte Bepflanztheit mit Bauquadern noch nach Unfertigkeit und Terraingeschäften zu riechen scheint. Dann aber tritt man - zwischen zwei staatlichen Elefantenhäuschen - tritt man - dann siehst du eine Brücke - dann ist rechts und links schwindelhaft tief, weit zu den Seiten, Tallandschaft - auf der langen, langen Brücke gehend, blickt man leicht schauernd in abendliche Flur - hört aus dem reifverhängten Tal, hoch von den glimmenden Häusern neben dem winterlichen Fluß Alzette, einsam die Stimme eines alten Hundes - und man geht über die Brücke und kommt einmal wieder ans Ende. - Und geht durch die Straßen der kleinen Hauptstadt - da ist ein Hotel, in dessen Speisesälen dunkle Franzosen und plumpe Luxemburger richtige Menus mit pigeon rôti und Traubenrosinen hinterher essen, viel reden und viele Zahnstocher in die allzu hohlen Weisheitszähne und in Weißbrotkugeln dolchen - da starb irgendwo der Hauptmann von Coepenick und da hausen irgendwo zusammen einige Hofleute des letzten Habsburgerkaisers. - In einem Eckcafé, wo ich starken, schwarzen Trank aus heißem Glas zugesiltert erhielt, glaubte ich, der Entwicklung einer heißblütigen Schlägerei beizuwohnen, während in Wahrheit nur die gemütliche Schoppenaussprache über die Aussichten irgendeiner morgigen Munizipalwahl im Gange war. Ja, es ist (ohne daß wir uns erzählend in Sumpfland verlieren wollen) eine hitzige Kleinpolitik in diesem Ländchen, eine Außenpolitik jedensalls, die sich sehr erbost über das Großland, das im Augenblick gerade dem Ländchen aussitzt und juckt und saugt.“
Herr Erwin Reiche wäre vielleicht besser Reisender der Schuhwarenbranche geblieben, aber da er nun doch umgesattelt hat und Reisestücke schreibt, so darf man kurz zu ihm Stellung nehmen.
Er ist noch interessanter, als er vielleicht denkt. Er ist ein Typ, und das ist in der heutigen, bis zur Langeweile eingeebneten Gesellschaft immerhin etwas. Er ist der Typ des jungen Mannes, der mit schriftstellerischen Hintergedanken sich in eine neue Umwelt begibt und kindlicherweise allerhand Eindrücke von der Oberfläche empfängt, die er dann mit zuhause in Vergleich stellt. Es frappiert ihn, daß auf der Speisekarte pigeon rôti sieht. Wie anders klingt das doch, als etwa „Teltower Rübchen nach mazedonischer Art“ oder „Sôlo Ménier“ - wenn der Ober ganz vornehm ist, sagt er: Table d’ho.
Herr Erwin Reiche findet in seinem unverbrauchten Vergleichssinn alle quantitativen Unterschiede flugs heraus und macht aus seinen Eindrücken ein Neisestück. Nicht, um das Wesen des Gesehenen und Erlebten festzuhalten, bewahre, darauf kommt es nicht an, - sondern darauf, daß die Leute sagen: Nein, dieser Erwin Reiche! Wie er das wieder gebracht hat!
Das alles kleidet Herr Erwin Reiche in eine Sprache, welche das Neueste ist, wo man eben hat.
Lesen Sie dagegen nur eine Seite in der Campagne in Frankreich oder der Italienischen Reise, und Sie werden sich klar darüber, was die Deutschen von Goethe bis Erwin Reiche Fortschritte gemacht haben.