Original

3. Mai 1924

Das viele Gerede um die Briefmarken hat eine Erinnerung aus fernen Kinderjahren aufgestört.

Wir spielten mit Kameraden, deren Väter früher als Schiffleute Mosel und Rhein hinunter bis nach Holland gefahren waren und lange mit allerhand Mynheers Handel getrieben hatten.

Eines Tages entdeckten wir auf dem Speicher einen großen Wäschekorb voll vergilbter Geschästsbriefe aus der Zeit, wo man noch keine Kuverts verwandte. Es war blaßblaues Briefpapser mit dem Trockenstempel «Bath» in einer Ecke, im Rechteck gesaltet und zugesiegelt. Und auf jedem Brief klebte eine holländische Marke - Bre'fkäppchen - mit dem Bildnis des jungen Wilhelm III. die einen schwarz, die andern braunrot. Viele Hundert solcher Briefe lagen im Korb. Wir bekamen die Erlaubnis, die Marken auszuschneiden und wir klebten sie auf altes Dütenpapier zu allen möglichen Figuren, Kreuzen, Kreisen usw. zusammen. Einem war es sogar gelungen, die Umrisse eines Schiffes darzustellen, mit Steuer, Mastbaum, Kajüte und Flagge. Später erfuhr ich, daß wir auf diese Weise ein kleines Bauerngut zerschnitzelt und zerklebt hatten.

Die Macht der Briefmarke wurde mir dann neuerdings klar, als tagelang die Schalter um die CaritasMarken belagert wurden und der normale Postverkehr von der Philathelie lahmgelegt war. Da begriff ich, daß die Post zwar nebenher auch dafür da ist, Briefe und sonstige Sendungen zu befördern, daß jedoch ihre Hauptausgabe darin besteht, Briefmarken zu Sammelzwecken unter die Leute zu bringen.

Wenn ich noch daran gezweifelt hätte, so wäre ich seit Mittwoch nachmittag, wo der Herr Postminister in der Kammer über das Kapitel Briefmarken sprach, eines Besseren belehrt. Wer noch den mindesten Zweifel gehabt hätte, konnte sich da überzeugen, daß die Post hierzulande ungefähr dieselbe Ausgabe erfüllt, wie in Italien die Staatslotterie. Herr Neyens sprach von dem Renommee unserer Briefmarken so warm, wie er je von unserm Staatskredit gesprochen haben kann. Wir stehen und fallen mit dem Ruf unserer Marke. Und dann sagte er das Große, Wesentliche, das unserer Post ihren Charakter als nationales Spekulationsinstitut sichert: Die Stärke einer Markenauflage darf niemals verraten werden! Wenn jedesmal bekannt würde, in welcher Anzahl eine neue Marke zur Ausgabe gelangt, so würde das der Marke und dem Interesse der Sammler schaden!

Deutlicher kann man den Charakter der Briefmarke als Spekulationsobjekt nicht betonen. Und es ist gut so. Dann legen unsere Leute ihre Spargroschen in luxemburger Briefmarken statt in der preußischen Klassenlotterie an.

Geberene Nörgler finden allerdings daran auszusetzen, daß eine vollständige Geheimhaltung nicht möglich ist, daß es immer ein halbes bis ein ganzes Dutzend Leute geben muß, in der Postdirektion in Luxemburg und in der Druckerei Enschede in Harlem, die genau wissen, wieviel von der neuen Marke ausgegeben werden. Es sind dieselben, die wußten, daß die grüne Zehnfrankmarke in der Farbe mißraten war, und daß das Cliché in schwarz viel besser herauskäme. Und diese Nörgler treiben den Zynismus so weit, zu behaupten, wenn sie zu den Wissenden gehört hätten, so hätten sie sich damals ein Blatt von hundert. Stück für tausend Frank gekauft, das dann heute 100×500=50 000 Frank wert wäre. Und wenn sie eine ganz befleckte Phantasie haben, reden sie davon, daß sie zehn Blätter zu hundert Stück gekaust hätten, die heute eine halbe Million wert wären. Aber Herr Neyens sagte mit Recht, er halte das für ausgeschlossen.

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KatalognummerBW-AK-012-2648