Ich hatte ihn noch nie so verärgert, ich könnte fast sagen so empört gesehen.
„Nun, lieber Grimberger, was bringt Sie denn so Harnisch?“
„Ach lassen Sie mich gefälligst ungeschoren. Ich bin sowieso schon wütend genug!“
„Dafür kann ich doch nichts!“
„Nein, natürlich können Sie nichts dafür. Das ist übrigens Ihr Glück!“
„Waren Sie am Ende auch ....?“
„Freilich, wie denn sonst! Seit Jahren war ich in keinem Vortrag mehr, und nun reitet mich der Teufel, daß ich ausgerechnet ....“
„Aha, alter Sünder! Wahrscheinlich, weil in der Anleitung stand: Nur für Erwachsene.“
Er hustete mit pöh pöh! über die Insinuation weg und knurrte weiter:
„Fünf Minuten vor Beginn war ich im Saal, um mir einen guten Platz zu sichern. Ich setzte mich in die sechste Reihe. Es machte keinen Unterschied. Ebensogut hätte ich in der zweiten gesessen und doch nichts verstanden. Noch nie sah ich jemand das Publikum so zynisch zum besten haben. Dieser Herr also steht am Rednerpult und spricht - was sage ich! - flüstert der direkt vor ihm sitzenden Respektsperson seinen Vortrag zu als müßte er ihr etwas sehr Anstößiges diskret ins Ohr sagen. Und die übrigen Zuhörer sitzen geschlagene zwei Stunden, geduldig, wie die armen Seelen im Fegefeuer, und hören nichts, warten warten sehnsuchtsvoll auf den Schluß, atmen erlöst auf, als endlich ....“
„Ja, aber lieber Grimberger, Sie sind doch sonst nicht so schüchtern und rücksichtsvoll, warum haben sie nicht gezischt, oder „bitte etwas lauter!“ gerufen, oder sind mit Geräusch hinausgegangen?“
„Man hat doch Erziehung, man will doch solchem Herrn zeigen, daß man sich zu beherrschen weiß einer unerhörten Herausforderung ans Publikum gegenüber. Aber der soll sich unterstehen und wiederkommen!“
„Dann wird der Saal womöglich noch voller.“
„Grimberger lachte schmetternd Hohn.
„Jawohl, lieber Freund,“ fuhr ich fort, „Sie wissen nicht, worin die Anziehungskraft dieser Vorträge liegt. Sie will kulturhistorisch begriffen sein. Die Vorträge begannen hier in Luxemburg vor zirka dreißig Jahren Mode zu werden. Damals grassierte das Vortragsfieber aktiv und passiv. In einer Karnevals-Revue kam bezeichnenderweise ein junger Mann vor, der alle Anwesenden kniefällig anflehte: Oh, laßt mich, laßt mich doch nur ein einziges Mall - vor der was denn? - Einen Vortrag halten!
Das Zuhörerpublikum der Vorträge bestand vorwiegend aus Damen. Das erklärt sich daraus, daß die luxemburger Frau damals vielfach noch zu einem wahren Haremsdasein im schlimmen Sinn verurteilt war. Ihr Erscheinen in einem öffentlichen Lokal wirkte als Exzentrizität, wenn nicht als Skandal. Heute, wo die Majestic, die Trocadero, die Hinnert usw. ohne Damenbesuch nicht denkbar sind, erinnern wir uns der Prüderie jener Zeit nur mit Schaudern. Während Väter, Gatten und Brüder im Café bei Bier und Skat saßen, renkten sich zuhaus die Töchter, Gattinnen und Schwestern die Kinnladen aus vor Langeweile. Sichlangweilen gehörte damals zu den weiblichen Familien beschäftigungen wie Kochen und Strümpfestopfen.
Da kamen die Vorträge und mit ihnen die willkomenen und höchst respektabeln Vorwände, daß Gattinnen, Töchter und Schwestern abends mit ausgingen. Gierig griffen sie noch der Gelegenheit, ein wenig Toilette zu machen, ein wenig an die Abendluft zu kommen, Freundinnen zu sehen, gesehen zu werden und sogar meist an einer kleinen Nachfeier teilnehmen zu dürfen. Ob der Vortrag über die Vorherberechnung der Maikäferjahre, über die Messiade von Klopstock, über die Beinstellung der mitteleuroräischen Fürstengeschlechter oder über Kindbetthygiene ging, immer fanden ihn die Damen wundervoll, immer war der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt und immer wußten nachher die meisten nicht, worüber der Vortragende gesprochen hatte.
Diese Anziehungskraft der Vorträge hat allmählich nachgelassen, und zwar genau im arithmetischen Verhältnis zu den anderweitigen Ausgeh-Gelegenheiten der Damenwelt.
Ist es einem solchen Verhalten der Zuhörerschaft gegenüber zu verwundern, daß manche Konserenzler auf das Publikum nicht mehr Rücksicht nehmen, als das Publikum auf sie!“
Grimberger zuckte die Achseln und knurrte:
„Mit Ihnen ist auch kein ernstes Wort zu reden!“