Original

15. Mai 1924

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß zum Schriftstellern Talent gehört. Nur Schriftsteller selbst und Leute, die nie zu schreiben versucht haben, halten an diesem Irrtum fest. Im übrigen sind von hundert Lesern einer Zeitung oder eines Buches fünfundsiebzig überzeugt, daß sie das ebensogut, wenn nicht besser gemacht hätten, als der Verfasser.

Sie haben recht. Nur hat aus dieser Erkenntnis bis jetzt in der Alten Welt, soviel ich weiß, niemand die Konsequenzen gezogen. Dies war einer hübschen Amerikanerin, Frl. Elinor Glyn vorbehalten, die mit verschiedenen Büchern einen Bombenerfolg hatte und nun allen ihren Landsleuten zeigen will, wie es gemacht wird, damit man mit Geschichten und Filmdramas Geld verdient. - How you can make money writing stories and photoplays.

Die Anzeige stand in einem amerikanischen Magazine, mit einem Bild Elinor Glyns. (Daher die Feststellung, daß sie hübsch ist.) „Jahre lang - schreibt sie - galt die irrige Annahme, daß zum Schriftstellern eine Begabung gehörte, die durch ein Wunder in die Hand weniger Auserwählten gelegt war. Die Leute sagten, ein Schriftsteller müsse ein „emotionelles Genie“ mit langen Haaren und Sonderlingsmanieren sein. Manche schworen, es habe keinen Zweck, einen Versuch zu wagen, wenn man nicht von der Zauberhand der Muse berührt worden sei. Das ist heute als Mumpitz erkannt. Die ganze Welt erfährt heute die Wahrheit über das Schriftstellern. Überall kommt man dahinter, daß Schriftsteller sich in nichts von den übrigen Menschen unterscheiden. Sie sind einsache, gewöhnliche Leute, sie haben lediglich die Grundsätze ihres Berufs gelernt und haben sie in intelligenter Weise angewandt. .... Die wirklich erfolgreichen Schriftsteller, die mit ihrer Feder ein Vermögen erwerben, schreiben einfach über einfache, gewöhnliche Vorgänge des alltäglichen Lebens. .... Das ist das Geheimnis des Erfolgs, ein Geheimnis, das im Bereich eines jeden Menschen liegt, denn jeder Mensch ist mit irgendeiner Art des Lebens vertraut. .... Ich habe Hunderten gezeigt, wie sie ihre Gedanken zu Geld machen können. .... Eine vielbeschäftigte Hausfrau, der im Traum nicht einfiel, daß sie schreiben könnte, verkaufte ihr erstes Filmdrama für fünfhundert Dollar. Janett Burrows, Stenographin in Cleneland, Ohio, folgte meinen Angaben und verdiente über viertausendfünfhundert Dollar in sechs Monaten. Peggy Reidell, Sekretärin in Chicago, verkaufte ihre erste Exzählung für zweihundertfünfzig Dollar. Eine Hausfrau in Massachusetts verkaufte vierzig Manuskripte in zwei Jahren. Stellen Sie sich vor, was sie verdienen mußte.“

Es gibt ein Schauspiel: Wovon die jungen Mädchen träumen. Dies müßte umgeschrieben werden. Denn alle, die jene Anzeige lesen, träumen unbedingt nur noch davon, eine berühmte Schriftstellerin zu werden, die viel Geld verdient.

Frl. Elynor Glyn will ihnen den Weg dazu weisen. Sie brauchen nur von The Authors’ Press, Auburn N. Y. die kostenlose Zusendung eines Broschürchens «The Short-Cut to Sucessful Writing» zu verlangen. Darin steht alles. „Das bedeutet vielleicht den entscheidenden Wendepunkt in Ihrem Leben.“

Kurz nachdem ich diese Anzeige gelesen hatte, las ich eine andere, auch in einem amerikanischen Magazine. Ein Mann unternahm es, jedem, der den Wunsch darnach äußerte, in sechs Monaten das Klavierspielen durch briefliche Korrespondenz beizubringen.

Jetzt verzweifle ich nicht mehr daran, daß ich Ihnen auf brteflichem Weg auch die Kunst der Bildhauerei werde beibringen können.

Das Rezept ist schon sehr alt, aber anscheinend immer noch nicht genug bekannt, da ja die Bildhauer noch ziemlich selten sind. Diese selber kennen das Geheimnis, aber aus Konkurrenzueid geben sie es nicht preis. Wenn es sich aber um ein öffentliches Interesse handelt, darf es nicht länger verschwiegen werden. Ich veröffentliche es kostenlos, wie Elinor Glyn ihre Broschüre.

Auch der Bildhauer braucht nämlich keine besondere Begabung. Er nimmt einfach einen Marmorblock, einen Meißel und einen Hammer. Mit diesen beiden schlägt er von dem Marmorblock alles herunter, was zuviel ist, und das Werk, das ihn berühmt macht, ist fertig.

TAGS
  • on writing
  • review of British book
KatalognummerBW-AK-012-2658