Original

18. Mai 1924

Die Zeitungen meldeten dieser Tage: „Herr Soundso, Industrielle in Dingsda usw. ....“

Wenn das einen unvorbereitet trifft, könnte ein Schlaganfall die Folge sein. Ich schlage schaudernd einen Bogen, wenn ich auf das entsetzliche Wort treffe. Man könnte davon träumen: „Ein Industrielle!“ Klingt ähnlich, wie ein Libelle. Ein Gesicht mit wallendem Vollbart, dazu ein Frauenkörper in Wippröckchen und Seidenbluse. Oder umgekehrt ein zartes Mädchenantlitz und darunter eine breitschultrige Männergestalt in englischem Sacco-Anzug.

Weiß der Henker, wer dies Zwittergeschöpf von einem Wort im luxemburger Deutschen eingeschmuggelt hat. (Luxemburger Deutsch meint nicht die luxemburger Mundart, sondern das Hochdeutsche, das wir uns hier zurechtmachen.) Es ist natürlich eine Übersetzung oder Übernahme des französischen Industriel. Aber dann sollte man ihm nicht die weibliche Endung hinter dem unbestimmten Artikel geben. Das franzöfische Wort ist bequem, wie ein Rucksack. Man kann alles hineinstopfen. Wer irgendwie im Zusammenhang mit der Industrie Geld verdient oder verdienen möchte, nennt sich Industriel. Man hat versucht, es mit „Gewerbetreibender“ zu übersetzen. Aber das klingt erstens nicht so vornehm, und zweitens erschöpft es den Begriff nicht. Nicht jeder Industriel treibt ein Gewerbe, viele lassen sich umgekehrt vom Gewerbe treiben. Im Deutschen ist man Fabrikant, Fabrikbesitzer oder Kaufmann. Im Französischen kann man zwischen beiden Berufen in der Luft hängen und ist immer noch Industriel. Industriel kann unter Umständen treffend mit Industrieritter übersetzt werden. Aber ein vollkommen gleichwertiges Wort gibt es im Deutschen wohl nicht. Zumal nicht zur Bezeichnung eines Mannes, dessen ganzer Zusammenhang mit der Industrie nur aus dem innigen Wunsche besteht, diesen Zusammenhang herzustellen und möglichst viel Geld dabei zu verdienen.

Der Wettbewerb zur Erlangung einer adäquaten Verdeutschung dieses vielgebrauchten Wortes ist hiermit eröffnet. Unerfahrene seien indes vor den Schwierigkeiten des Unternehmens gewarnt. Ein Berichterstatter dieses Blattes hatte eines Tages „commerçant“ mit „Handelsmann“ übersetzt, und es kam darüber zu den gefährlichsten Verwicklungen. Ein blutiges Duell wurde nur durch den Ausbruch des Krieges verhindert.

Wir haben eine ganze Reihe solcher Wörter, die wir uns scheuen, in ehrlichem Deutsch wiederzugeben. Es gibt Leute, die sich lieber die Hand abhacken oder die Zunge herausreißen ließen, als daß sie für Madame Veuve Durand sagten oder schrleben: Frau Witwe Lehmann. Nein, sie halten darauf, ihre Höflichkeit dazutun, indem sie übersetzen: Die hochachtbare Dame Witme usw. Die Deutschen sind sich durchaus keiner Unhöflichkeit bewußt, wenn sie sagen: Frau Ebert, Frau Marx, Frau Stresemann. Die berühmte Freundin Goethe’s hieß zu einer Zest, wo das Französische in hohen Ehren stand und Goethe selbst erwog, ob er nicht lieber französisch schreiben sollte, ganz ruhig Frau von Stein, und es ist nie jemand eingefallen, ihren Adel dadurch zu erhöhen, daß er sagte: Die hochachtbare Dame von Stein.

Noch ein Wort des Anstoßes: mineur. In der Rubrik Zivilstand wird das mit „Minirer“ übersetzt. Es gibt aber Tausende von „mineurs“, die nie eine Mine bohren oder laden oder abschießen. Was wir unter diesem Wort verstehen, wird in gutem Deutsch Bergarbeiter genannt. Aber der Zivilstandsregisterführer findet „Minirer“ offenbar eleganter. Er geht davon aus, daß ein mineur ganz anders aussieht, als ein Bergarbeiter.

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    KatalognummerBW-AK-012-2661