Original

20. Mai 1924

Während die Abwässer der Wiltzer Gerberei von Fabrikdüften überschwebt, durch die Wiesen strudelten und im Tal die Apfelbäume weithin in leuchtendem Brautschmuck standen, sandten zweie durchs Coupéfenster bald empörte, bald entzückte Blicke und redeten zwischendurch über das Wesen der Schönheit.

„Und ich sage, die Schönheit ist etwas Anundfürsichenes, durch sich selbst und um ihrer selbst willen da, in sich abgeschlossen und durch kein Anderes bedingt in Sein noch Art und Umfang.“

„Und ich sage, im Schönheitsbegriff liegt unbedingt der Nützlichkeitsbegriff beschlossen. Schönheit bejaht immer die Frage nach Nützlichkeit.“

„Unsinn! Hast du nicht gelesen, was dein Landsmann Büffet von schönen Frauen gesagt hat? Une belle femme est toujours une belle femme! Sie ist es oder sie ist es nicht. Über das Wie und Warum und Wozu fällt es niemanden ein zu streiten.“

„Dies schürft zu tief und führt zu weit.“

„Oder willst du am Ende Frauenschönheit an einem Gebrauchswert messen?“

„Du bist unerbittlich. Ich lehne es aus Schicklichkeitsgründen ab, dir auf dies Gebiet brutaler Nutzanwendungen zu folgen, trotzdem ich überzeugt bin, daß ich recht behielte. Aber suchen wir lieber ein anderes Vergleichsobjekt. Sieh einmal draußen“ - es war zwischen Kautenbach und Göbelsmühle - „die schwarzen Wasser der Wiltz mit den darauf treibenden schneeweißen Flocken: Ist das Bild nicht an und für sich schön? Ebenso schön wie die weiße Flockenpracht der blühenden Apfelbäume, ja noch schöner in seiner schlanken Hingerissenheit, seiner quirlenden Bewegung und ewigen Erneuerung, durch liebliches Rauschen und Glucksen belebt, - ist das nicht hinnehmender, als die starre, eingebildete, stummdumme Feieklichkeit der Baumblüte, in der die Bäume dastehen wie Bauernkommunionskinder beim Photographen! Und trotzdem entzückt dich die Blüte und ärgert dich das Wasser. Warum? Weil das Nützlichkeitsmoment ausschlaggebend ist. Weil du im Anblick der Baumblüte an das gute Obstjahr denkst, an die Luft der Ernte, an die gefüllten Körbe, die duftende Obstschale zum Nachtisch, die leckern Kuchen, die edeln Schnäpse usw. usw. Und weil dich das Gerbereiwasser, das mit quirlenden Schaumslocken zu Tal treibt, an tote Forellen erinnert, die bauchoben in der malerischen Brühe daher schwimmen, statt dir in explosivem Satz an die Maifliege zu schnellen.“

Der andere lachte höhnisch und überlegen.

„Und wenn ich dir nun nicht den Gefallen tue, an die toten Forellen zu denken! Sondern an das schöne Geld, das die Arbeiter der Umgegend in Wiltz verdienen? An die sauber gegerbten Felle, an die imposanten Sohllederröhren, an die prächtigen wasserdichten Strapazierschuhe, die sich daraus bauen lassen? Da ist doch auch der Nützlichkeitshintergrund, und trotzdem erscheint mir das schwarze Wasser mit dem weißen Schaum häßlich.“

„Aha, merkst du was? Ist dir denn nicht klar, daß du im selben Moment gedacht hast: Erstens, was nützen mir die Wasserdichten, wenn keine Forellen mehr da sind und ich nicht mehr fischen kann? Zweitens: Es wäre sehr wohl möglich, Leder zu machen, ohne die Landschaft zu verpesten und die Fische zu vergiften. - Und so kannst du immerhin die Schmutzwasser der Wiltz schön finden als Muster zu einem originellen Vorsatzpapier oder Trierer Blaudruck - da wäre dieser leidenschaftlich, inbrünstig, geheimnisvoll und unheimlich dunkle Grund mit dem weißen Flockengestrudel zu gebrauchen, da könnte er schön sein. Aber so nicht!“

In Luxemburg stiegen die beiden aus. Der Humpen Mousel-Pilsen beim Schammel im Bahnhofrestaurant erstrahlte ihnen in idealer Schönheit, in wahrhaft päpstlichen Farben, dem blitzblanken, hellen Bernsteingelb des Tranks und dem zartmatten Weiß des Schaums darüber.

„Siehst du,“ sagte der eine, „daß der Gebrauchswert bei der Schönheit eine große Rolle spielt!“

„Quatsch!“ sagte der andere. „Kuni, noch einen Humpen!“

„Noch zwei!“ sagte der eine.

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