Original

13. Juni 1924

Die Warchenne kommt durch ein einsames Waldund Wiesentälchen von Waismes herunter nach Malmedy. Die einen sagen Weißmes, die andern Ouähm. Der Warchenne ist es egal.

Ich schlendre ihr entgegen, fort aus dem Stadtbereich, erst dicht am Wasser einen Wiesenpfad, dann die schöne Landstraße hinauf, eine liebliche Parkanlage entlang, alles ist voll sonntäglicher Stimmung, die Häuser am Weg, die Alleebäume, die Passanten. Es gibt solche gesegneten Erdenflecke, wo immer Sonntag zu sein scheint.

Im Wiesentälchen pflückt ein Pärchen Blumen - oder tut so. Die Wiesen breiten sich zwischen Schälwald und Kornfeldern die Höhen hinauf, fettgrüne Hecken teilen das Land auf, und ganz oben hört auf einmal das Grün auf und braun, wie verbrannt, wölbt sich ein Höhenrücken gegen den Himmel, der Auftakt zum Hohen Venn. Rührend hilflos und verwegen sieht mitten in der braunen Einöde da und dort der zartgrüne Fleck eines kümmerlichen Strauchs, Und durch das Braun webt es schüchtern wie eine Ahnung von Grün - die Heide, die winzige grüne Blättchen treibt, aber damit gegen den Grundton nicht aufkommt. Später, wenn ihre Zeit gekommen ist, wird sich das Braun in sanft leuchtendes Violett wandeln und dann wird die Heide in ihrem Königsmantel über allem Grün sich himmelan heben.

Der Weg zieht sich lang und länger das Tälchen hinauf, ich klettere rechts durch Gebüsch und Gestrüpp bergan, in der unbestimmten Hoffnung, auf eine Straße zu gelangen, die wieder zutal fühet. Bald bin ich oben und finde durch bis zu einem schmalen Feldweg, der mit Buchenhag rechts und links eingesaßt ist. Jenseits des Taleinschnitts liegen auf der Höhe verstreut drei, vier Echöfte, inmitten saftiger Wiesen, auf denen Kühe weiden oder wiederkäuend im Schatten eines Baumes liegen. Ganz dort unten, im silbrigen Schein des Spätnachmittags, dehnt sich Malmedy und gleicht einem Riesenschmeiterling, dessen Flügel die aufwärts gefalteten Talhänge sind. Es ist eine große Sanftheit und Güte in dieser Landschaft, gar nicht das Herbe und Schroffe unseres Öslings. Fruchtbarkeit ist die Signatur der Gegend, die mit ihren Almen und Kühen an einige Gegenden der Schweiz und Oberbayerns erinnert.

Ich merke bald, daß ich drauf und dran bin, mich zu verlaufen, und frage über eine Hecke hinüber einen Bauer nach dem Weg. Er gibt mir beflissen und freundlich Auskunft. Ich komme an ein paar der saubern Gehöfte vorbei. Alles atmet Wohlstand. Vor einem Haus, das mit Stall und Scheune einsam hoch zwischen Hecken und Bäumen auf der Wiese liegt, klopft ein Mann den Staub aus, dem Sofa seiner guten Stube. An einer Gartenmauer hängt plötzlich ein Briefkasten. Warum nicht! Die Leute hier oben wallen doch auch mit der Welt in Verbindung siehen. Aber ich denke an den armen Briefträger, der im Winter durch den meterhohen Schnee hier herauf stapfen muß! Und an die Croix des fienoés, die dort drüben auf dem Hohen Venn steht, zur Erinnerung an die zwei armen Kinder, die im Winter 1893 von dem Hof. wo sie als Knecht und Magd dienten, nachhaus wanderten und sich im Schnee verirrten. Drei Monate später, als der Schnee abging, fand man die Leichen und in der Tasche des Mannes den Zettel, auf dem er vorm Sterben aufgeschrieben hatte, daß seine Braut vor Erschöpfung soeben gestorben war, und daß er sein Ende nahen fühlte.

Wieder sitze ich unter den Rotdornbäumchen vor dem Hôtel de la Gare in Malmedy. Vom First des Gouverneurpalastes gegenüber, in dem General Baltia wohnt, wehen knatternd die Fahnen im Wind, die schwarz-gold-rote belgische und die schwarzgold-grüne der Stadt Malmedy.

Das Wetter ist unsicher.

Der brave belgische Poilü, der die Wache hat, geht vor dem Tor auf und ab, immer siebzehn Schritte nach rechts, kehrt, siebzehn Schritte nach links. Ein Schild zeigt die Straße hinauf nach dem Lager von Elsenborn.

Das Wetter ist unsicher.

Belgische Kollegen am Nebentisch sprechen von der französischen Politik, von einer Parlser Wählerversammlung von zwanzigtausend Kommunisten, die «Vive l’Allemagne!» gerusen hatten und: „Wir wollen nicht, daß unsere deutschen Brüder Reparationen bezahlen!“

Der Posten mißt eilfertig seine siebzehn Schritte hin und zurück, Er hat mit dem Bajonett seine Flinte zu einem gefährlichen Stachel verlängert, der Feuer speien kann.

Die Sonne tritt hinter den treibenden Wolken hervor und beleuchtet grell die Wegschilder, die nach dem Lager von Elsenborn und nach Montjoie (Montschan) und Köln zeigen.

Das Wetter ist sehr unsicher.

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